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Turbodigitalisierung – der virale Effekt

Für einen V-Verlauf sind wir noch ganz schön weit unten: Die Wirtschaftsweisen haben am 20. März in ihrem Sondergutachten für Deutschland einen tiefen Absturz mit vergleichsweise schneller Erholung prognostiziert. Das war zu optimistisch gedacht und ist bereits jetzt von der Wirklichkeit überholt.

Die stärkste Wirtschaftskrise seit 1929

Das Statistische Bundesamt ermittelte am 15. Mai einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 2,2 Prozent. Die Bundesregierung geht von 6,3 Prozent für das ganze Jahr 2020 aus. Kurz gesagt: Die Rezession ist da und sie ist beispiellos. Dieser starke Einbruch liegt unter anderem auch daran, dass die Corona-Krise sowohl die Angebots- als auch die Nachfrageseite betrifft.

Denn anders als in der Finanzkrise von 2008 bleiben die Verbraucher nicht unbeeindruckt, im Gegenteil. Außer bei Lebensmitteln und Unterhaltungsmedien haben die Verbraucher deutlich weniger konsumiert. Diese Kaufzurückhaltung wird uns noch lange erhalten bleiben. So mussten deutsche Autohersteller bereits wenige Wochen nach dem Neustart ihrer Produktion den Ausstoß wieder verringern, weil die Kunden ausbleiben.

Doch es ist zu einseitig, das Bild nur schwarz in schwarz zu malen. Die wirtschaftlichen Sektoren sind unterschiedlich betroffen. So wird in den nächsten Monaten die Zahl der Insolvenzen in einigen Branchen stark ansteigen, während andere weniger betroffen sind oder sogar von der Krise profitieren. Zu letzteren gehören vor allem die großen Plattformunternehmen, in erster Linie Amazon.

Digitale Vorreiter sind widerstandsfähiger

Eine genaue Analyse der Folgen der Corona-Krise in unterschiedlichen Branchen bringt das Trendbook Smarter Enterprise, dass ich zusammen mit dem digitalen Mastermind Bernhard Steimel geschrieben habe. Unsere These dabei: Je stärker ein Unternehmen digitalisiert ist, desto besser ist es mit der Krise klargekommen.

Das eindrücklichste Beispiel ist natürlich das Homeoffice. Viele Unternehmen haben sich bisher dagegen gewehrt. So verschenkten sie in der Corona-Krise wertvolle Zeit, bis alle Mitarbeiter in ihren Heimbüros wieder arbeitsfähig waren. Nur Unternehmen mit digitalen Arbeitsplätzen konnten ab Tag Eins ungebremst weiter arbeiten.

Viele weitere Beispiele finden sich in der Studie, aber auch in einem Gespräch zwischen Bernhard Steimel, dem Wirtschaftsjournalisten Gunnar Sohn und weiteren Digitalexperten. Auch hier die einhellige Meinung: Digitale Vorreiter sind widerstandsfähiger. Deutsche Firmen sollten davon lernen, gerade jetzt, während des Neustart der Wirtschaft.

Die Krise als Turbo der Digitalisierung

Es gibt eine ganze Reihe an Unternehmen, die in der Krise geschickt agiert haben. Ein Kosmetikunternehmen setzte das Personal der geschlossenen Filialen als Berater im Online-Verkauf über Social-Apps wie WeChat ein. Eine Restaurantkette entwickelte Halbfertig-Gerichte, die das Kochen zu Hause erleichtern. Ein Lebensmittelhersteller sah das Hamstern voraus und verlagerte seinen Vertriebsschwerpunkt auf E-Commerce.

Die Unternehmen waren dadurch in der Lage, wenigstens einen Teil ihrer Umsätze zu halten und nach dem Neustart der Wirtschaft zu wachsen. Diese Beispiele haben allerdings einen Haken: Sie stammen aus China. Weit fortgeschrittene Digitalisierung und eine agile Arbeitsweise erlaubten rasche Krisenreaktion bereits im Januar. Deutsche Unternehmen dagegen mussten häufig erst die technischen Voraussetzungen für Webshops oder Videomeetings schaffen.

So macht Corona schmerzhaft auf viele Digitalisierungslücken in der deutschen Wirtschaft aufmerksam und wirkt gleichzeitig als Digitalisierungsturbo. Einige Lücken sind jetzt im Eiltempo geschlossen worden, andere erfordern hohe Investitionen in digitale und nachhaltige Technologien – um Innovationen zu schaffen.

Das alternative Ende: Die neue Normalität ist die alte

Unser Trendbook hat einige grimmige Nachrichten für die deutsche Wirtschaft. Wir sind aber optimistisch gestimmt und gehen davon aus, dass Wirtschaft und Politik in Deutschland verstanden haben. notwendig sind jetzt mehr Digitalisierung, neuartige (agile) Arbeitsweisen und viel Innovation.

Für bewegliche Unternehmen ist das meist kein Problem. Die im Vergleich zur Bay Area eher kleine, aber fix agierende Startup-Szene in Deutschland zeigt es. Auch auf den ersten Blick traditionell wirkende Mittelständler reagierten fix, beispielsweise Trigema als ein Vorreiter bei der Produktion von Stoffmasken.

Doch gerade einige Unternehmen aus deutschen Kernbranchen scheinen bei diesen Lektionen geschlafen zu haben: Sie kappen Investitionen, kürzen Forschungsausgaben und stoppen Innovationsprojekte, wie der Plattformexperte Holger Schmidt in einem Artikel in der Zeit kritisiert. Die große Gefahr ist, dass die Unternehmen wieder in ihre alten, abwehrenden Reflexe verfallen und die üblichen Verdächtigen aus der GAFA-Ecke die einzige Gewinner der Krise sind.

Bildquelle: Iscatel / Adobe Stock

Cloud Computing unter Hochspannung

Produktivitätssteigerung ist das Mantra des Cloud Computing. Das zeigen die Überschriften von aktuellen Fachveröffentlichungen. Als kleine Auswahl: Wie Cloud Computing die Produktivität ihres Recruiting steigert. Produktivität steigern durch Automatisierung. Wie der Digital Workplace produktiver macht. Die Cloud als zentraler Produktivitätsfaktor. Usw. usf. 

Doch wo genau erzeugt die Cloud eine höhere Produktivität? Diese Frage ist nicht ohne weiteres zu beantworten. Zumindest aus der Sicht der Gesamtwirtschaft wächst die Arbeitsproduktivität seit Jahrzehnten kaum noch. Eine erklärungsbedürftige Entwicklung, denn genau in diesen Zeitraum fällt die flächendeckende Verbreitung von Informationstechnologie. Trotz ihres großen Produktivitätsversprechens scheint es, als seien Unternehmen kaum produktiver geworden.

Dieser Zusammenhang wird auch als das Produktivitätsparadoxon der Informationstechnologie bezeichnet. Es gibt eine Menge Hinweise darauf, dass die Hypothese stimmt. Ein alltägliches Beispiel: Office-Software verlagert die Arbeit am Inhalt auf Gefrickel an der Form. Dadurch wird ein simpler Bericht zum Zwischenstand eines Projekts zu einem Hochglanzdokument in Magazin-Optik. Kostete ein solcher Bericht in den frühen achtziger Jahren vielleicht 500 Mark an Material und Arbeitseinsatz, so geht es heute in den vierstelligen Bereich – da ist sie hin, die Arbeitsproduktivität.

Einfach Cloud? Nein, hybride Multi-Cloud

Um die Frage nach der Produktivität der Cloud wenigstens einigermaßen beantworten zu können, zunächst ein Blick auf eine wichtige Stoßrichtung von Cloud Computing: Der Ersatz selbstbetriebener IT durch eine neue Form von Outsourcing. Am deutlichsten ist dies bei Geschäftsanwendungen, die im Browser genutzt werden. Software as a Service (SaaS) ersetzt lokal installierte Programme. 

Zunächst einmal ist das eine Win-Win-Situation. Der Hersteller der Software erspart sich den Aufwand für die Distribution. Es gibt nur noch ein Release, dessen einzige Instanz gepflegt und weiterentwickelt wird. Updates stehen allen Nutzern sofort zur Verfügung. Admins in Unternehmen müssen keine Software verteilen, kein Patchmanagement betreiben und nur vergleichsweise wenige Computerressourcen bereithalten.

Doch der Rückschlag folgt auf dem Fuße. Durch die Möglichkeit der schnellen Releases hat sich eine Featuritis breitgemacht, sowohl bei einzelnen Cloudservices als auch im Gesamtmarkt. Inzwischen gibt es für jedes nur denkbare Problem irgendeine Cloudanwendung. Kanban-Boards online? Kein Problem mit Trello. SEO-Texte unkompliziert verfassen? Searchmetrics steht bereit. Sprachaufzeichnungen transkribieren? Hier lang zu Trint.

Und das ist nur SaaS. Wer sein Rechenzentrum abschaffen möchte, kann Cloudinfrastruktur bei fünf großen und Dutzenden kleineren Anbietern buchen. Der Funktionsumfang der Marktführer ist gigantisch, ihre Leistungsfähigkeit ebenso und viele ihrer Spezialfunktionen sind konkurrenzlos. So nutzen Unternehmen häufig zahlreiche SaasS-Anbieter und Infrastrukturservices zur gleichen Zeit – die viel zitierte Multi-Cloud ist entstanden.

Sie ist außerdem oft eine Mischung aus lokalen und wolkigen Anwendungen – die Hybrid-Cloud. Der Grund: Zumindest in den KRITIS-Branchen dürfen viele Cloudanwendungen nur in einer Private Cloud im eigenen Rechenzentrum betrieben werden. Die EU-Datenschutzregeln fügen dem weitere strenge Anforderungen hinzu, sodass viele internationale Clouds ungeeignet sind. Was aber ihre Nutzung nicht verhindert, wenn es um nicht datenschutzrelevante Informationen geht.

Die Cloud: Nicht weniger komplex als früher, nur anders

Die Unternehmen befinden sich also in einem Dilemma: Auf der einen Seite machen Cloudservices tatsächlich vieles einfacher. Auf der anderen erhöhen sie die Komplexität der IT auf neue Weise, etwa durch eine aufwändige Konfiguration und Integration der Cloudservices. Bereits ein scheinbar simpler Service wie Microsoft Office 365 Enterprise erweist sich beim näheren Hinschauen als Labyrinth, das ebenso kenntnis- wie trickreiche Admins erfordert. 

Eine Explosion der Komplexität ist zudem die Folge, wenn zusätzlich zur Public Cloud auch selbstbetriebene Anwendungen wie die SAP-Suite und eine Private Cloud zu einem stabilen und leistungsfähigen Ganzen integriert werden sollen. Hier endet dann das Versprechen der Cloud, IT ganz einfach zu machen. Denn ohne Know-how und Erfahrung geht nichts. Die beim Auflösen des eigenen IT-Betriebs freigesetzten Admins sind zur Vordertür hinaus und zur Hintertür wieder hereingekommen. In vielen großen Unternehmen ist sogar das Gegenteil einer Vereinfachung passiert: Die Kosten für Investitionen und Personal in der IT steigen seit Jahren.

Zudem wächst auch der Beratungsbedarf. Ein Beispiel ist die Highend-Cloudanwendung Salesforce. Sie ist an ihrer Basis immer noch eine einfach zu nutzende CRM-Lösung, bietet aber zudem viele neue Möglichkeiten rund um Kundenservice, Social Media und interne Zusammenarbeit. Wenn ein Unternehmen diesen Mehrwert nutzen will, muss es zuerst auf den Prüfstand. So setzen viele Möglichkeiten von Salesforce auch entsprechende Strukturen voraus. Wer zum Beispiel die inhaltliche Expertise nicht im Haus hat, kann mit den entsprechenden Funktionen nur wenig anfangen.

Beratungsbedarf: Cloudservices in Etappen einführen

Im zweiten Schritt muss der Nutzer Salesforce an die bestehende digitale Infrastruktur anpassen, meint Florian Gehring, Gründer des Consulting-Unternehmens Salesfive, das sich auf Beratung von Salesforce-Nutzern spezialisiert hat. Ein boomender Sektor: Seit der Gründung 2016 ist das junge Unternehmen auf knapp 70 Mitarbeiter angewachsen und hat weit über 250 erfolgreiche Beratungsprojekte verwirklicht. Der Kundenstamm reicht dabei von Startups über Hidden Champions aus dem Mittelstand bis hin zu Konzernen.

„Salesforce ist gut darin, die Komplexität der Cloud von den Anwendern abzuschirmen“, sagt Gehring. „Man muss kein Entwickler oder Informatiker sein, um Salesforce richtig aufzusetzen. Die Setup-Konsole funktioniert wie ein Baukastensystem und führt die Nutzer zuverlässig zum Ziel.“ Das sei auch das Prinzip von Salesforce, die Anwender sollten möglichst viel selbst machen. Der Salesfive-Gründer betont: Die eigentliche Komplexität entstehe auf einem anderen Feld.

„Salesforce hat ein offenes Ökosystem aufgebaut, in das die Nutzer sehr viele verschiedene andere Systeme integrieren können“, erklärt Sven Strehlke, Mitgründer von Salesfive. „Dazu muss aber ein Digitalisierungskonzept definiert werden. Hier liegt unsere eigentliche Beratungsleistung.“ Seiner Meinung nach holen im Moment noch nicht alle Nutzer das Maximum aus Salesforce heraus. Das könne sein, weil sie die Komplexität der Möglichkeiten nicht überblicken oder weil sie Unterstützung bei der Integration von Drittsystemen benötigen.

In der Praxis arbeiten die Berater von Salesfive vorwiegend in Multi-Cloud-Projekten, bei denen Komplexität selbstverständlich ist. Hinzu kommt, dass Salesforce neben CRM auch Service, Marketing, Commerce, verschiedene Industrielösungen und vieles mehr anbietet – und auch immer mehr Kunden darauf zugreifen. Dahinter verbergen sich große Change-Projekte: „Es ist wichtig, ein iteratives und agiles Verfahren zu wählen, bei dem die Stakeholder eingebunden werden.“ sagt Strehlke. „Es gibt einen enormen Beratungsbedarf, vor allem im Mittelstand. Dort arbeiten sehr viele Unternehmen noch mit einer Kombination aus Notizblock und Excel.“

Cloudproduktivität lässt sich nur schwer messen

Dieser Ausflug in das Salesforce-Ökosystem zeigt, dass die Zeiten einfacher Lösungen vorbei sind. Wenn ein Unternehmen von der Cloud profitieren will, muss es zu 100 Prozent auf sie setzen. Umfassende Digitalisierung ist gefragt. Wer noch Papierschnittstellen und Excel-Basteleien nutzt, verschenkt viel Potenzial.

Und was ist mit der Produktivität? Vermutlich ist das Produktivitätsparadoxon nur ein Trugbild. Es basiert auf einer Vorstellung von Produktivität, die auf Messungen zurückgeht. Alles, was sich nicht (ohne weiteres) messen lässt, fällt demnach nicht unter die Produktivität. Denn der eigentliche Vorteil der Entwicklung des Cloud Computing in den letzten 15 Jahren liegt nicht in einer Produktivitätssteigerung, die an simplen KPIs ablesbar ist. Sie liegt in den neuen Möglichkeiten, die uns ohne Cloud nicht verfügbar wären. 

Ein Beispiel: Vor 25 Jahren wurden im Marketing in erster Linie Broschüren per Post versendet. Damals gab es noch keine Nahe-Echtzeit-Kommunikation via Facebook oder LinkedIn. Sie ist chancenreich, aber auch kostenträchtig – vor allem beim Personal. Die Idealvorstellung ist ein Newsroom mit 24×7-Besetzung, der im Notfall zu jeder Tages- und Nachtzeit aggressiv aufgeschaukelte Diskussionen glättet. 

So machen heute oft zwei Dutzend Leute eine Aufgabe, die es vor einem Vierteljahrhundert gar nicht gab. Aus einer stark vereinfachten Sicht heraus macht das Marketing heute nichts anderes als früher™, aber mit dem zigfachen Personal und entsprechend höheren Gestehungskosten. Die entscheidende Frage bei der Produktivität der Cloud: Welche Aufgaben ermöglicht sie. Es geht nicht darum, einen fixen Bestand an Arbeit auf weniger Köpfe zu verteilen. Es geht darum, in einem durch Digitalisierung und Informationstechnologie bestimmten Alltag zu arbeiten.

Bildquelle: Pixabay

Industrie 4.0: Kostensenker vs. Innovatoren

  • Bereits 2014 hat die Staufen AG den ersten Industrie 4.0 Index erhoben. Damals wusste In den Unternehmen kaum jemand etwas mit dem Thema anzufangen. Doch seitdem ist er kontinuierlich gestiegen - Industrie 4.0 setzt sich durch.

Vielleicht ist es ja Übersättigung, denn seit Jahren ist von nichts anderem als Digitalisierung, Internet der Dinge und Industrie 4.0 die Rede. Da es ist dann schon erstaunlich, dass die strategische Bedeutung der Digitalisierung in den deutschen Chefetagen sinkt – eines der Ergebnisse der Studie „Digitale Transformation 2019. Die Zukunftsfähigkeit deutscher Unternehmen“ der Digitalisierungsberatung Etventure. Bei der Vorgängerstudie im letzten Jahr nannten noch rund zwei Drittel (62%) der befragten Großunternehmen die digitale Transformation als eines der drei wichtigsten Unternehmensziele, in diesem Jahr waren es nur noch etwa die Hälfte (54%).

Doch statt Überdruss könnte es auch einen anderen Grund haben, wie die Autoren der Studie vermuten: Die Selbstberuhigung mit den Gedanken „Es wird schon nicht so schlimm“ oder „Wir sind doch Weltmarktführer“. Wer sich mit Digitalisierung intensiv beschäftigt, weiß genau: Das schützt vor nichts, siehe Nokia und Kodak. Die digitale Transformation sollte also im Denken der Unternehmenslenker eine hohe Bedeutung haben.

Die Industrie 4.0 ist angekommen – aber noch nicht überall

Etventure untersuchte in seiner Studie die Wirtschaft in der ganzen Breite und befragte dafür zur Hälfte Dienstleistungsunternehmen und nur zu einem Drittel Firmen aus Industrie und verarbeitendem Gewerbe. Ein etwas detailreicheres Bild malt der „Deutsche Industrie 4.0 Index 2019“ der Unternehmensberatung Staufen. So gehören die Firmen der drei deutschen Schlüsselbranchen Maschinenbau, Elektrotechnik und Automobil zu den erfolgreichen Digitalisierern der deutschen Wirtschaft. Der Index und damit die Verbreitung von Industrie-4.0-Konzepten steigt seit Jahren. (Siehe die Slideshow am Beginn dieses Beitrags)

Das wichtigste Ergebnis: Jedes zweite Industrieunternehmen aus den Fokusbranchen setzt auf die Smart Factory und andere Elemente aus der Industrie 4.0. Die größten Fortschritte bei der Digitalisierung hat die Elektroindustrie gemacht: Mehr als zwei Drittel der Unternehmen setzen auf die Smart Factory. Der Maschinenbau ist nur wenig zögerlicher. Schlusslicht ist die Automobilindustrie, in der weniger als jedes zweite Unternehmen Industrie 4.0 umsetzt. Dieser Wert ist gegenüber der Untersuchung von 2018 sogar zurückgegangen. Auch hier wird also die Krisenstimmung deutlich, die aktuell in der Automotive-Branche herrscht.

Doch die grundsätzlich positiven Ergebnisse bedeuten nicht, dass Deutschland jetzt plötzlich zum Superstar der digitalen Transformation geworden ist. Denn die Ergebnisse der Staufen-Studie zeigen deutlich zwei sehr wichtige Eigenheiten des Deutschland-Modells der Digitalisierung. So geht es in erster Linie um Effizienz und bei der Umsetzung sind die Unternehmen zu vorsichtig, sie verwirklichen in großer Mehrheit lediglich Pilotprojekte. Diese beiden Besonderheiten werden übrigens von anderen Studien bestätigt – mehr dazu in den jeweiligen Abschnitten.

Der deutsche Dreisprung: Effizienz, Transparenz, Kostensenkung

Nach den Motiven für die Digitalisierung gefragt, nennen deutsche Industrieunternehmen seit Jahren dieselben Dauerbrenner: Sie möchten die interne Effizienz steigern, mehr Transparenz in ihren Prozessen erreichen und natürlich die Kosten senken. So auch wieder beim Industrie 4.0 Index für 2019. Auch diesmal geht es zwei Drittel bis drei Viertel der Firmen um genau diese Themen.

Dies ist auch ein wichtiger Grund dafür, dass der erst zum zweiten Mal erhobene Teilindex für Smart Business branchenübergreifend gesunken ist. Auch Staufen kommt in seiner Studie zu dem Schluss, dass das Interesse an neuen Geschäftsmodellen eher mau ist. Nur ein Fünftel der Unternehmen bietet seinen Kunden smarte, vernetzte Produkte und Services an. Die Innovatoren in den Unternehmen werden offensichtlich von den Kostensenkern ausgebremst.

Dazu passen die Ergebnisse der IDC-Studie „Industrial IoT in Deutschland 2019/2020„. Dementsprechend setzen ein Viertel der Unternehmen aus der Industrie und den industrienahen Branchen erste IoT-Projekte um. Dabei sind Unternehmen aus der Industrieproduktion am weitesten fortgeschritten. Bei ihnen steht allerdings die Optimierung im Vordergrund: Die zwei wichtigsten Gründe für das Industrial IoT sind Kostenreduzierung (40%) und die Verbesserung von interner Effizienz und Produktivität (35%).

Die deutsche Vorsicht: Lieber noch ein Pilotprojekt

Auch wenn sich eine große Zahl der Unternehmen mit Themen wie Digitalisierung, Industrie 4.0 und Industrial IoT beschäftigt: Komplett neue Geschäftsmodelle (4%) oder die vollständige operative Umsetzung der Smart Factory (8%) sind selten. Stattdessen ist die Szene beherrscht von Einzelprojekten, die bereits seit Jahren einen großen Teil der Industrie-4.0-Initiativen ausmachen.

Besonders deutlich wird dies beim Thema Smart Factory: Jedes zweite Unternehmen hat entsprechende Projekte im Angebot. Vor vier Jahren waren es noch ein Drittel. Zudem wird fleißig entwickelt: Ein Drittel der Unternehmen entwickelt aktuell smarte Produkte oder Services und weitere 10 Prozent testen gerade ihre Entwicklungsergebnisse bei den Kunden. Bei der Umsetzung hapert es allerdings, die auf breiter Front genutzte Smart Factory ist für mehr als 90 Prozent der Unternehmen noch Zukunftsmusik.

„Trotz der vielen Pilotprojekte kommt es nur sehr selten zu einer konkreten Anwendung im Unternehmen. Den Firmen gelingt es nicht, die Projekte nach der Testphase zügig in den Arbeitsalltag zu integrieren.“ Diese Aussage stammt aus einer internationalen McKinsey-Studie zum Digital Manufacturing. Interessant dabei: Unternehmen aus den traditionellen Branchen in allen Industrienationen haben diese Schwierigkeit, nicht nur die deutschen. Das lässt den Schluss zu, dass die Probleme auch der hiesigen Unternehmen eher an den Strukturen und weniger an der Mentalität liegen.

So geht’s: Erst nachdenken, dann digitalisieren

Der Staufen-Index zur Industrie 4.0 zeigt deutlich: Da die Digitalisierung in erster Linie Prozesseffizienz erreichen soll, haben die Endkunden noch vergleichsweise wenig von den Bemühungen. Das zeigt sich beispielsweise In der Autobranche beim sogenannten Connected Car – die OEMs bieten im Moment nur erste Ansätze. Verglichen mit dem Bordcomputer und der Systemsoftware eines Tesla wirkt das unausgereift.

Doch es gibt auch das genaue Gegenteil, nämlich die bewusstlose Digitalisierung von allem und jedem – vom Spielzeug-Teddy mit Sprachnachrichten-Funktion bis hin zum Toaster, bei dem sich der Bräunungsgrad per App einstellen lässt. „Hört auf, alles um jeden Preis zu digitalisieren“, fordert der Software-Unternehmer Amir Karimi in einem Blogbeitrag für mobilbranche.de. „Stattdessen sollte die Frage wieder im Mittelpunkt stehen, wie (und wem) Digitalisierung einen Mehrwert bringt.“

Er kritisiert hier Unternehmen, die zwar digitalisieren, aber vorher nicht nachdenken. Viele smarte Produkte und Services machen nur wenig Sinn und bringen den Kunden nichts. Bei vernetztem Spielzeug gibt es sogar mehr Sicherheitsprobleme als Spielspaß. Karimi stellt die auf Digitaleuphoriker ketzerisch wirkende Frage: „Bis zu welchem Grad muss ein Unternehmen digital werden?“ Seine Antwort: „Ein Bewusstsein für die Werte, die strategische Ausrichtung und die Belastbarkeit des eigenen Unternehmens sorgen für eine gesunde Dosis der Veränderung.“

Hidden Champions gibt es auch in der Industrie 4.0

Aus dieser Sicht relativiert sich auch die gemächlich wirkende Digitalisierungsgeschwindigkeit in der deutschen Industrie. Denn hinter den zahllosen Einzelprojekten und den wenigen smarten, vernetzten Produkten und Services verbirgt sich eine wachsende Wirtschaftsmacht – die digitalen Hidden Champions, wie sie Hermann Simon in einem Aufsatz für den aktuellen Harvard Business Manager nennt.

Simon erkennt den Industriesektor, also die B2B-Märkte, als große Chance für die deutsche Wirtschaft. Hier können sie ihre Erfolgsgeschichte auch in Zukunft fortsetzen. Der Grund: Silicon-Valley-Unternehmen sind blind für Nischenmärkte. Denn genau darum handelt es sich bei den digitalen Märkten für industrielle Prozesse. Sie zeichnen sich durch eine höhere Komplexität als B2C aus sowie durch ein äußerst spezialisiertes Know-how. Simon: „Am Markt ist dieses Wissen kaum verfügbar, es steckt in den Köpfen der Mitarbeiter jener Unternehmen, die auf solche Prozesse spezialisiert sind.“

Der entscheidende Vorteil der klassischen Hidden Champions ist für Simon ihre Kundennähe. Sie kennen sich sehr gut mit der Wertschöpfungskette ihrer Zielgruppen aus und können mit neuen, digitalen Lösungen echten Kundennutzen schaffen. Darüber hinaus haben sie die kalifornische Lektion gelernt: Sie setzen nicht nur auf inkrementelle Verbesserungen, sondern auf „Sprunginnovationen“ – also fundamentale, disruptive Veränderungen.

Das Know-how der Mittelständler macht den Unterschied

Für Simon hat die Digitalisierung ein spezielles Merkmal: Die B2B-Kunden der deutschen Mittelständler wissen häufig selbst nicht, was sie von der Digitalisierung erwarten können oder was diese bewirken kann. Hier greift die Stärke der digitalen Hidden Champions. Sie sind sehr gut darin, Kundenbedürfnisse und Technologie zur Übereinstimmung zu bringen. Dies kann zu Entwicklungskooperationen, Ökosystemen oder im Einzelfall sogar zu einer Fusion führen. Das beste Beispiel dafür ist der Automatisierungsexperte und Maschinenbauer Grohmann Engineering aus Prüm in der Eifel. Er heißt heute Tesla Grohmann Automation und ist am Aufbau der Gigafactories beteiligt.

„Die klare Überlegenheit von Hidden Champions rührt daher, dass sie nicht nur einen Wettbewerbsvorteil besitzen, sondern gleich mehrere“, betont Simon. Dazu gehören Produktqualität, Wirtschaftlichkeit, Service und Lieferpünktlichkeit, aber auch Systemintegration, Benutzerfreundlichkeit und Beratung. Letztlich handelt es sich dabei um Merkmale, die in der Kompetenz der Mitarbeiter wurzeln, so Simon. Dies könne weder im Silicon Valley noch in China nachgeahmt werden.

Die stark digitalisierten Hidden Champions sind beispielgebend für den gesamten deutschen Mittelstand sowie die großen Familienunternehmen. Sie sollten den Fokus auf Innovation richten und die Zwischenphase der Prozessoptimierung und Kostensenkung möglichst rasch verlassen. Dann wird auch der Staufen-Index für Smart Business im nächsten Jahr ähnlich stark ansteigen wie der für die Smart Factory.

Bildquelle:  chiradech / Adobe Stock

Slideshow: © Staufen AG

Offenlegung: An der hier vorgestellten Studie „Deutscher Industrie 4.0 Index 2019“ war ich als Redakteur beteiligt. Dieser Blogbeitrag ist von der Staufen AG weder beauftragt noch bezahlt worden.