Schlagwort-Archive: Innovation

Turbodigitalisierung – der virale Effekt

Für einen V-Verlauf sind wir noch ganz schön weit unten: Die Wirtschaftsweisen haben am 20. März in ihrem Sondergutachten für Deutschland einen tiefen Absturz mit vergleichsweise schneller Erholung prognostiziert. Das war zu optimistisch gedacht und ist bereits jetzt von der Wirklichkeit überholt.

Die stärkste Wirtschaftskrise seit 1929

Das Statistische Bundesamt ermittelte am 15. Mai einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 2,2 Prozent. Die Bundesregierung geht von 6,3 Prozent für das ganze Jahr 2020 aus. Kurz gesagt: Die Rezession ist da und sie ist beispiellos. Dieser starke Einbruch liegt unter anderem auch daran, dass die Corona-Krise sowohl die Angebots- als auch die Nachfrageseite betrifft.

Denn anders als in der Finanzkrise von 2008 bleiben die Verbraucher nicht unbeeindruckt, im Gegenteil. Außer bei Lebensmitteln und Unterhaltungsmedien haben die Verbraucher deutlich weniger konsumiert. Diese Kaufzurückhaltung wird uns noch lange erhalten bleiben. So mussten deutsche Autohersteller bereits wenige Wochen nach dem Neustart ihrer Produktion den Ausstoß wieder verringern, weil die Kunden ausbleiben.

Doch es ist zu einseitig, das Bild nur schwarz in schwarz zu malen. Die wirtschaftlichen Sektoren sind unterschiedlich betroffen. So wird in den nächsten Monaten die Zahl der Insolvenzen in einigen Branchen stark ansteigen, während andere weniger betroffen sind oder sogar von der Krise profitieren. Zu letzteren gehören vor allem die großen Plattformunternehmen, in erster Linie Amazon.

Digitale Vorreiter sind widerstandsfähiger

Eine genaue Analyse der Folgen der Corona-Krise in unterschiedlichen Branchen bringt das Trendbook Smarter Enterprise, dass ich zusammen mit dem digitalen Mastermind Bernhard Steimel geschrieben habe. Unsere These dabei: Je stärker ein Unternehmen digitalisiert ist, desto besser ist es mit der Krise klargekommen.

Das eindrücklichste Beispiel ist natürlich das Homeoffice. Viele Unternehmen haben sich bisher dagegen gewehrt. So verschenkten sie in der Corona-Krise wertvolle Zeit, bis alle Mitarbeiter in ihren Heimbüros wieder arbeitsfähig waren. Nur Unternehmen mit digitalen Arbeitsplätzen konnten ab Tag Eins ungebremst weiter arbeiten.

Viele weitere Beispiele finden sich in der Studie, aber auch in einem Gespräch zwischen Bernhard Steimel, dem Wirtschaftsjournalisten Gunnar Sohn und weiteren Digitalexperten. Auch hier die einhellige Meinung: Digitale Vorreiter sind widerstandsfähiger. Deutsche Firmen sollten davon lernen, gerade jetzt, während des Neustart der Wirtschaft.

Die Krise als Turbo der Digitalisierung

Es gibt eine ganze Reihe an Unternehmen, die in der Krise geschickt agiert haben. Ein Kosmetikunternehmen setzte das Personal der geschlossenen Filialen als Berater im Online-Verkauf über Social-Apps wie WeChat ein. Eine Restaurantkette entwickelte Halbfertig-Gerichte, die das Kochen zu Hause erleichtern. Ein Lebensmittelhersteller sah das Hamstern voraus und verlagerte seinen Vertriebsschwerpunkt auf E-Commerce.

Die Unternehmen waren dadurch in der Lage, wenigstens einen Teil ihrer Umsätze zu halten und nach dem Neustart der Wirtschaft zu wachsen. Diese Beispiele haben allerdings einen Haken: Sie stammen aus China. Weit fortgeschrittene Digitalisierung und eine agile Arbeitsweise erlaubten rasche Krisenreaktion bereits im Januar. Deutsche Unternehmen dagegen mussten häufig erst die technischen Voraussetzungen für Webshops oder Videomeetings schaffen.

So macht Corona schmerzhaft auf viele Digitalisierungslücken in der deutschen Wirtschaft aufmerksam und wirkt gleichzeitig als Digitalisierungsturbo. Einige Lücken sind jetzt im Eiltempo geschlossen worden, andere erfordern hohe Investitionen in digitale und nachhaltige Technologien – um Innovationen zu schaffen.

Das alternative Ende: Die neue Normalität ist die alte

Unser Trendbook hat einige grimmige Nachrichten für die deutsche Wirtschaft. Wir sind aber optimistisch gestimmt und gehen davon aus, dass Wirtschaft und Politik in Deutschland verstanden haben. notwendig sind jetzt mehr Digitalisierung, neuartige (agile) Arbeitsweisen und viel Innovation.

Für bewegliche Unternehmen ist das meist kein Problem. Die im Vergleich zur Bay Area eher kleine, aber fix agierende Startup-Szene in Deutschland zeigt es. Auch auf den ersten Blick traditionell wirkende Mittelständler reagierten fix, beispielsweise Trigema als ein Vorreiter bei der Produktion von Stoffmasken.

Doch gerade einige Unternehmen aus deutschen Kernbranchen scheinen bei diesen Lektionen geschlafen zu haben: Sie kappen Investitionen, kürzen Forschungsausgaben und stoppen Innovationsprojekte, wie der Plattformexperte Holger Schmidt in einem Artikel in der Zeit kritisiert. Die große Gefahr ist, dass die Unternehmen wieder in ihre alten, abwehrenden Reflexe verfallen und die üblichen Verdächtigen aus der GAFA-Ecke die einzige Gewinner der Krise sind.

Bildquelle: Iscatel / Adobe Stock

Cloud Computing unter Hochspannung

Produktivitätssteigerung ist das Mantra des Cloud Computing. Das zeigen die Überschriften von aktuellen Fachveröffentlichungen. Als kleine Auswahl: Wie Cloud Computing die Produktivität ihres Recruiting steigert. Produktivität steigern durch Automatisierung. Wie der Digital Workplace produktiver macht. Die Cloud als zentraler Produktivitätsfaktor. Usw. usf. 

Doch wo genau erzeugt die Cloud eine höhere Produktivität? Diese Frage ist nicht ohne weiteres zu beantworten. Zumindest aus der Sicht der Gesamtwirtschaft wächst die Arbeitsproduktivität seit Jahrzehnten kaum noch. Eine erklärungsbedürftige Entwicklung, denn genau in diesen Zeitraum fällt die flächendeckende Verbreitung von Informationstechnologie. Trotz ihres großen Produktivitätsversprechens scheint es, als seien Unternehmen kaum produktiver geworden.

Dieser Zusammenhang wird auch als das Produktivitätsparadoxon der Informationstechnologie bezeichnet. Es gibt eine Menge Hinweise darauf, dass die Hypothese stimmt. Ein alltägliches Beispiel: Office-Software verlagert die Arbeit am Inhalt auf Gefrickel an der Form. Dadurch wird ein simpler Bericht zum Zwischenstand eines Projekts zu einem Hochglanzdokument in Magazin-Optik. Kostete ein solcher Bericht in den frühen achtziger Jahren vielleicht 500 Mark an Material und Arbeitseinsatz, so geht es heute in den vierstelligen Bereich – da ist sie hin, die Arbeitsproduktivität.

Einfach Cloud? Nein, hybride Multi-Cloud

Um die Frage nach der Produktivität der Cloud wenigstens einigermaßen beantworten zu können, zunächst ein Blick auf eine wichtige Stoßrichtung von Cloud Computing: Der Ersatz selbstbetriebener IT durch eine neue Form von Outsourcing. Am deutlichsten ist dies bei Geschäftsanwendungen, die im Browser genutzt werden. Software as a Service (SaaS) ersetzt lokal installierte Programme. 

Zunächst einmal ist das eine Win-Win-Situation. Der Hersteller der Software erspart sich den Aufwand für die Distribution. Es gibt nur noch ein Release, dessen einzige Instanz gepflegt und weiterentwickelt wird. Updates stehen allen Nutzern sofort zur Verfügung. Admins in Unternehmen müssen keine Software verteilen, kein Patchmanagement betreiben und nur vergleichsweise wenige Computerressourcen bereithalten.

Doch der Rückschlag folgt auf dem Fuße. Durch die Möglichkeit der schnellen Releases hat sich eine Featuritis breitgemacht, sowohl bei einzelnen Cloudservices als auch im Gesamtmarkt. Inzwischen gibt es für jedes nur denkbare Problem irgendeine Cloudanwendung. Kanban-Boards online? Kein Problem mit Trello. SEO-Texte unkompliziert verfassen? Searchmetrics steht bereit. Sprachaufzeichnungen transkribieren? Hier lang zu Trint.

Und das ist nur SaaS. Wer sein Rechenzentrum abschaffen möchte, kann Cloudinfrastruktur bei fünf großen und Dutzenden kleineren Anbietern buchen. Der Funktionsumfang der Marktführer ist gigantisch, ihre Leistungsfähigkeit ebenso und viele ihrer Spezialfunktionen sind konkurrenzlos. So nutzen Unternehmen häufig zahlreiche SaasS-Anbieter und Infrastrukturservices zur gleichen Zeit – die viel zitierte Multi-Cloud ist entstanden.

Sie ist außerdem oft eine Mischung aus lokalen und wolkigen Anwendungen – die Hybrid-Cloud. Der Grund: Zumindest in den KRITIS-Branchen dürfen viele Cloudanwendungen nur in einer Private Cloud im eigenen Rechenzentrum betrieben werden. Die EU-Datenschutzregeln fügen dem weitere strenge Anforderungen hinzu, sodass viele internationale Clouds ungeeignet sind. Was aber ihre Nutzung nicht verhindert, wenn es um nicht datenschutzrelevante Informationen geht.

Die Cloud: Nicht weniger komplex als früher, nur anders

Die Unternehmen befinden sich also in einem Dilemma: Auf der einen Seite machen Cloudservices tatsächlich vieles einfacher. Auf der anderen erhöhen sie die Komplexität der IT auf neue Weise, etwa durch eine aufwändige Konfiguration und Integration der Cloudservices. Bereits ein scheinbar simpler Service wie Microsoft Office 365 Enterprise erweist sich beim näheren Hinschauen als Labyrinth, das ebenso kenntnis- wie trickreiche Admins erfordert. 

Eine Explosion der Komplexität ist zudem die Folge, wenn zusätzlich zur Public Cloud auch selbstbetriebene Anwendungen wie die SAP-Suite und eine Private Cloud zu einem stabilen und leistungsfähigen Ganzen integriert werden sollen. Hier endet dann das Versprechen der Cloud, IT ganz einfach zu machen. Denn ohne Know-how und Erfahrung geht nichts. Die beim Auflösen des eigenen IT-Betriebs freigesetzten Admins sind zur Vordertür hinaus und zur Hintertür wieder hereingekommen. In vielen großen Unternehmen ist sogar das Gegenteil einer Vereinfachung passiert: Die Kosten für Investitionen und Personal in der IT steigen seit Jahren.

Zudem wächst auch der Beratungsbedarf. Ein Beispiel ist die Highend-Cloudanwendung Salesforce. Sie ist an ihrer Basis immer noch eine einfach zu nutzende CRM-Lösung, bietet aber zudem viele neue Möglichkeiten rund um Kundenservice, Social Media und interne Zusammenarbeit. Wenn ein Unternehmen diesen Mehrwert nutzen will, muss es zuerst auf den Prüfstand. So setzen viele Möglichkeiten von Salesforce auch entsprechende Strukturen voraus. Wer zum Beispiel die inhaltliche Expertise nicht im Haus hat, kann mit den entsprechenden Funktionen nur wenig anfangen.

Beratungsbedarf: Cloudservices in Etappen einführen

Im zweiten Schritt muss der Nutzer Salesforce an die bestehende digitale Infrastruktur anpassen, meint Florian Gehring, Gründer des Consulting-Unternehmens Salesfive, das sich auf Beratung von Salesforce-Nutzern spezialisiert hat. Ein boomender Sektor: Seit der Gründung 2016 ist das junge Unternehmen auf knapp 70 Mitarbeiter angewachsen und hat weit über 250 erfolgreiche Beratungsprojekte verwirklicht. Der Kundenstamm reicht dabei von Startups über Hidden Champions aus dem Mittelstand bis hin zu Konzernen.

„Salesforce ist gut darin, die Komplexität der Cloud von den Anwendern abzuschirmen“, sagt Gehring. „Man muss kein Entwickler oder Informatiker sein, um Salesforce richtig aufzusetzen. Die Setup-Konsole funktioniert wie ein Baukastensystem und führt die Nutzer zuverlässig zum Ziel.“ Das sei auch das Prinzip von Salesforce, die Anwender sollten möglichst viel selbst machen. Der Salesfive-Gründer betont: Die eigentliche Komplexität entstehe auf einem anderen Feld.

„Salesforce hat ein offenes Ökosystem aufgebaut, in das die Nutzer sehr viele verschiedene andere Systeme integrieren können“, erklärt Sven Strehlke, Mitgründer von Salesfive. „Dazu muss aber ein Digitalisierungskonzept definiert werden. Hier liegt unsere eigentliche Beratungsleistung.“ Seiner Meinung nach holen im Moment noch nicht alle Nutzer das Maximum aus Salesforce heraus. Das könne sein, weil sie die Komplexität der Möglichkeiten nicht überblicken oder weil sie Unterstützung bei der Integration von Drittsystemen benötigen.

In der Praxis arbeiten die Berater von Salesfive vorwiegend in Multi-Cloud-Projekten, bei denen Komplexität selbstverständlich ist. Hinzu kommt, dass Salesforce neben CRM auch Service, Marketing, Commerce, verschiedene Industrielösungen und vieles mehr anbietet – und auch immer mehr Kunden darauf zugreifen. Dahinter verbergen sich große Change-Projekte: „Es ist wichtig, ein iteratives und agiles Verfahren zu wählen, bei dem die Stakeholder eingebunden werden.“ sagt Strehlke. „Es gibt einen enormen Beratungsbedarf, vor allem im Mittelstand. Dort arbeiten sehr viele Unternehmen noch mit einer Kombination aus Notizblock und Excel.“

Cloudproduktivität lässt sich nur schwer messen

Dieser Ausflug in das Salesforce-Ökosystem zeigt, dass die Zeiten einfacher Lösungen vorbei sind. Wenn ein Unternehmen von der Cloud profitieren will, muss es zu 100 Prozent auf sie setzen. Umfassende Digitalisierung ist gefragt. Wer noch Papierschnittstellen und Excel-Basteleien nutzt, verschenkt viel Potenzial.

Und was ist mit der Produktivität? Vermutlich ist das Produktivitätsparadoxon nur ein Trugbild. Es basiert auf einer Vorstellung von Produktivität, die auf Messungen zurückgeht. Alles, was sich nicht (ohne weiteres) messen lässt, fällt demnach nicht unter die Produktivität. Denn der eigentliche Vorteil der Entwicklung des Cloud Computing in den letzten 15 Jahren liegt nicht in einer Produktivitätssteigerung, die an simplen KPIs ablesbar ist. Sie liegt in den neuen Möglichkeiten, die uns ohne Cloud nicht verfügbar wären. 

Ein Beispiel: Vor 25 Jahren wurden im Marketing in erster Linie Broschüren per Post versendet. Damals gab es noch keine Nahe-Echtzeit-Kommunikation via Facebook oder LinkedIn. Sie ist chancenreich, aber auch kostenträchtig – vor allem beim Personal. Die Idealvorstellung ist ein Newsroom mit 24×7-Besetzung, der im Notfall zu jeder Tages- und Nachtzeit aggressiv aufgeschaukelte Diskussionen glättet. 

So machen heute oft zwei Dutzend Leute eine Aufgabe, die es vor einem Vierteljahrhundert gar nicht gab. Aus einer stark vereinfachten Sicht heraus macht das Marketing heute nichts anderes als früher™, aber mit dem zigfachen Personal und entsprechend höheren Gestehungskosten. Die entscheidende Frage bei der Produktivität der Cloud: Welche Aufgaben ermöglicht sie. Es geht nicht darum, einen fixen Bestand an Arbeit auf weniger Köpfe zu verteilen. Es geht darum, in einem durch Digitalisierung und Informationstechnologie bestimmten Alltag zu arbeiten.

Bildquelle: Pixabay

Innovation in D-Moll op. 2019

Wenn ein Porträt Deutschlands mit dem Versailler Vertrag beginnt, kann es sich eigentlich nur um einen Abgesang handeln. Und so liest sich der Artikel aus der Business Week vom April 2019: „Deutschland wirkt, als würde es in den letzten Tagen einer Ära leben; da ist diese Atmosphäre des bevorstehenden Wandels, für den niemand bereit zu sein scheint. Das Land bleibt zwar reich und politisch stabil, aber es ist schwer, sich dem Eindruck zu entziehen, dass die Deutschen selbstgefällig auf die Bedrohung ihres Wohlstands reagieren.“

Darauf folgen ein paar Stichworte, die uns auch von den eigenen Medien regelmäßig um die Ohren gehauen werden: Kanzlerinnendämmerung, Ende des Verbrennungsmotors, sklerotischer Bankensektor, Gegenwind durch globale Handelskriege, alarmierend geringes Wachstum. Doch die Business Week sieht neben viel Schatten auch ein wenig Licht: „Die Menge an kleinen und mittelgroßen Unternehmen, aus denen sich der mächtige deutsche Mittelstand zusammensetzt, bleiben innovativ und hochspezialisiert in ihren Premium-Nischen. Deutschland liegt bei der Automatisierung auf dem dritten Platz weltweit. Der Wechsel zu sauberem Strom hat es zu einem globalen Zentrum für erneuerbare Energien gemacht.“

Aus der Außensicht wirkt die Situation der hiesigen Wirtschaft durchwachsen. Doch wenigstens in Apokalyptik wollen die Deutschen Weltmeister sein. „Technologisch fast abgehängt: Deutschlands Wohlstand in ernster Gefahr“, titelte die Wirtschaftswoche Ende Oktober. Die Revolutionen und Innovationen der Tech-Branche seien an Deutschland vorbeigegangen – keine Computer, keine Smartphones, kein Internet, kein Cloud Computing und bald auch weder Machine Learning noch Künstliche Intelligenz. Das Land sei schwach in Sachen Software, habe nicht genügend Investoren für innovative Geschäftsmodelle und zehre immer noch von den Errungenschaften des 19. Jahrhunderts. Ein Klagegesang in D-Moll.

Die Innovationsfähigkeit der Wirtschaft

Es ist leider so: Die deutsche Digitalwirtschaft und Softwarebranche sind unterentwickelt. Doch Tech-Branchen wie Maschinenbau, Automatisierungstechnik und Automobilindustrie sind immer noch weltweit führend. Nicht umsonst hat E-Auto-Visionär Elon Musk den Produktionstechnik-Spezialisten Grohmann aus der Eifel einfach aufgekauft, um sich das Wissen und die Erfahrung der Mitarbeiter für seine Giga-Factories zu sichern – von denen eine in Deutschland gebaut werden soll. Dieses uneinheitliche Bild zeigt sich auch wieder beim seit 2007 fortlaufend ermittelten “Global Innovation Index (GII)” der „World Intellectual Property Organization (WIPO)“ der UN. Er sieht Deutschland auf dem 9. Rang. Es war allerdings auch schon mal auf Rang 13 (2013) und sogar auf Rang zwei (2007).

[toggle title=“Einige Ergebnisse des GII im Detail“]

Mit diesem Index wird die Wettbewerbsfähigkeit von 144 Nationen gemessen und zwar anhand von mehr als 80 Kriterien, darunter die Gründungsaktivitäten, Ausgaben für Bildung und Forschung und vieles mehr. Dabei wird zwischen Input-Kriterien (etwa Bildungssystem oder Dienstleistungssektor) und Output-Kriterien (Marktkapitalisierung, verfügbare Investments oder wissenschaftliche Veröffentlichungen) unterschieden. Bei einigen entscheidenden Indikatoren liegt die deutsche Wirtschaft bereits seit Jahren in der zweiten Hälfte der Liste.

So sind wir beim Gründen (Indikator “New businesses/th pop. 15–64”) auf Rang 64, es wird nach wie vor nicht ausreichend investiert (Indikator “Gross capital formation, % GDP”, Rang 91) und auch das Dauerproblem der schwierigen Unternehmensgründung ist noch da (Indikator ”Ease of starting a business”, Rang 88). Und traditionell liegt unser Land bei den Ausgaben für Bildung ebenfalls nicht vorn, nämlich auf Rang 55 (Expenditure on education, % GDP). Positiv dagegen: Rang 8 bei der Forschung (Indikator „Gross expenditure on R&D, % GDP“) und Rang 6 bei der Indikatorengruppe „Knowledge Creation“. Die Indikatoren zeigen außerdem , dass Deutschland auch als Standort für die Hightech-Herstellung (Indikator „High- & medium-high-tech manufactures, %“) mit Rang 6 ganz gut dasteht.

Top 25 der innovativen Staaaten im Jahresvergleich

Die letzten zehn Jahre sind bei Deutschland von wechselnden Positionen im Mittelfeld gekennzeichnet, jedenfalls gemessen am deutschen Selbstbild. Dass dies nicht mehr so ganz realistisch ist, merken viele Leute beim Überschreiten der holländischen Grenze. Das kleine Land hat sich längst aus dem Zeitalter der Wassertomate verabschiedet und stärkere Anstrengungen In Sachen Digitalisierung unternommen – wie auch Großbritannien. Entsprechend sind beide Länder seit einigen Jahren auf Spitzenplätze abonniert.

Interessant auch der dauerhafte erste Platz für die Schweiz und das sehr gute Abschneiden der Schweden. Auch den USA sind immer gute oder sehr gute Plätze sicher. Ein deutlicher Absteiger im letzten Jahrzehnt war Hongkong, das traditionell auf Augenhöhe mit den westlichen Industriestaaten agierte. Dies ist sicher im Zusammenhang mit dem Aufstieg von Mainland China zu sehen – die chinesische Regierung zieht vermutlich Innovationskapazität aus Hongkong ab und stärkt andere Metropolen – deutlich sichtbar am Aufstieg in die Top 25.

[/toggle]

„Länder wie Dänemark, Finnland, Großbritannien oder die Niederlande machen deutlich mehr aus ihren Möglichkeiten“, urteilt der Innovationsberater Jürgen Stäudtner. „Vor allem beim Innovations-Output fallen wir gegen diese Länder zurück.“ Stäudtner hat kürzlich eine erweiterte Auflage seines Buchs „Deutschland im Innovationsstau“ herausgebracht. Eine Kernaussage des Autoren: Die deutschen Unternehmen sind nicht innovativ genug. „Deutsche Manager verstehen zu selten, dass Innovation die finanziell erfolgreichste Strategie ist und widmen sich lieber Sparplänen.“ Investitionen in Neues seien den deutschen Unternehmen nicht wichtig. „Wir zehren lieber von der Vergangenheit“, sagt Stäudtner.

Auf die Frage, wie deutsche Unternehmen innovativer werden können, findet Stäudtner folgende Antwort: Indem die Menschen ideenreicher, kreativer und offener für neue Gedanken werden. Jedes Unternehmen braucht deshalb Mitarbeiter, die Regeln brechen, Kunden wirklich verstehen, mit Leidenschaft ihre Ideen vertreten, mit Augenmaß ihre Chancen nutzen, auch in schwierigen Situationen dranbleiben und Moonshot-Projekte beherrschen. Er plädiert für Innovationsinitiativen und Unternehmensgründungen, um ein Thema neu zu denken und zu gestalten. Seine Erkenntnis: „Die deutsche Gesellschaft legt Innovatoren Steine in den Weg. Jeder einzelne ist aufgerufen, dies zu ändern.“

Zur Lage der Innovation in Deutschland

„Das haben wir immer schon so gemacht. Das haben wir noch nie so gemacht. Das hat schon beim letzten Mal nicht funktioniert. Das wollen unsere Kunden nicht. Das können unsere Mitarbeiter nicht.“ Diese Killerphrasen hört jeder, der in einem deutschen Unternehmen etwas Ungewöhnliches vorschlägt. Trotzdem behauptet gefühlt jedes Unternehmen, besonders innovativ zu sein oder zumindest bald zu werden. Gibt es eigentlich noch ein größeres Unternehmen ohne Innovation Lab? Gemessen an der Anzahl solcher und ähnlicher Initiativen müsste die deutsche Wirtschaft Innovationsweltmeister sein.

Da ist Skepsis angebracht, meinen die Autoren der Studie „Innovative Milieus in Deutschland 2019“ von IW Consult im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung, für die rund 1.000 Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen befragt wurden. Sie kritisieren: „Deutsche Unternehmen bewegen sich zu häufig auf ausgetretenen Pfaden. Einer relativ kleinen Speerspitze von innovativen Unternehmen steht hierzulande eine Mehrzahl von innovationsfernen Firmen gegenüber.“ Nur rund ein Viertel der deutschen Unternehmen zeichnet sich laut der Studie durch Innovationsfreude und Technologieführerschaft aus. Und in etwa der Hälfte der hiesigen Firmen werden Innovationen nicht aktiv vorangetrieben. Das Urteil der Studienautoren: „Hier fehlen vor allem Risikobereitschaft und eine Innovationskultur, die Mitarbeiter ermutigt, neue Wege zu gehen.“

Die Analyse zeigt, dass die deutsche Wirtschaft vor großen Herausforderungen steht. Zwar ist der Mittelstand mit (inkrementellen) Produkt- und Prozess-Innovationen erfolgreich, doch in den Innovationsbereichen mit hohem Potenzial für Disruption gibt es Defizite. Der Grund liegt in der Verteilung der innovativen Milieus in der deutschen Wirtschaft: Weniger als die Hälfte der Unternehmen gehört zu einem Milieu, in dem das Austesten und Überwinden von Grenzen großgeschrieben wird. Die Verteilung lässt sich in einem „Blasendiagramm“ recht eindrücklich darstellen:

Computergenerierter Alternativtext:
Innovative Milieus in Deutschland, 2019 - Anteil in Prozent aller Unternehmen 
hoch 
(Leader) 
mittel 
-w (Follower) 
gering 
(Adapter) 
Technologie- 
führer 
6% 
Konservativer 
Innovator 
4% 
Passiver 
Umsetzer 
19% 
Disruptiver 
Innovator 
19% 
åufälliger 
Innovator 
16% 
Unternehmen ohne 
Innovationsfokus 
11% 
ohne Innovationsfokus 
(Festhalten am 
Status Quo) 
unstrukturiert 
(Neues von 
anderen adaptieren) 
FuE 
(Weiter- 
entwicklung) 
Technologiefokus 
(Techn. Grenzen 
austesten) 
disruptiv 
(Grenzen 
überwinden) 
Kooperativer 
Innovator 
25% 
partizipativ 
(Innovation durch 
Kooperation) 
Innovationsprofil 
„bewahren" 
N- 1.002. | Quelle: IW Consult (2019); IW Zukunftspanel Welle 32 
Innovationsprofil 
„forschen / entwickeln / erneuern" 
, eigene Berechnungen, eigene Darstellung. 
Innovationsprofil 
„kooperieren / öffnen/ Neuland erschließen" 
BertelsmannStiftung
Die deutschen Innovationsmilieus

[toggle title=“Gesellschaftliche Milieus in Deutschland“]

Die Studie von IW Consult basiert auf einem Ansatz der Soziologie, der soziale Milieus untersucht. Traditionell wurden in der Soziologie Gesellschaften nach dem Schichtenmodell beurteilt. Doch in der Realität zeigte sich, dass dieser zu grobschlächtig ist. So gibt es in den einzelnen Schichten ganz unterschiedliche Lebensstile und Lebenswelten – getrennte Milieus. Sie sind definiert als Gruppen Gleichgesinnter mit ähnlichen Grundwerten und ähnlicher Lebensführung. Sie besitzen eine erhöhte Binnenkommunikation und grenzen sich gegenüber anderen Gruppen ab.

Die bekannteste Einteilung von Milieus in der empirischen Sozialforschung sind die sogenannten Sinus-Milieus, die auf eine für 40 Länder erhobene Zielgruppen-Typologie des Markt- und Sozialforschungsunternehmens Sinus-Institut zurückgeht. Im Rahmen der Innovationsstudie sind vor allem die Sinus-Milieus für Deutschland wichtig. Die Merkmale und Verteilung dieser Milieus wird regelmäßig über qualitative Interviews ermittelt, bei denen Personen aus unterschiedlichen soziodemographischen Segmenten der Gesellschaft befragt werden. Anschließend erfolgt die quantitative Überprüfung mittels empirischer Sozialforschung. Insgesamt geht Sinus dabei iterativ vor: Die Abfolge von qualitativen und quantitativen Analysen wird so lange wiederholt, bis sich das theoretische Modell statistisch signifikant nachweisen lässt.

Die Einteilung in Milieus erfolgt in zwei Dimensionen: Erstens die soziale Lage, also die Schichtzugehörigkeit und zweitens die ethisch-gesellschaftliche Grundorientierung. Hierbei sind die Merkmale Tradition, Modernisierung, Individualisierung und Neuorientierung wichtig. Für die Einteilung in Milieus werden Neben soziodemographische Daten (Alter, Bildung oder Einkommen) auch Wertorientierungen und Alltagseinstellungen abgefragt, beispielsweise zu Arbeit, Familie, Freizeit, Konsum und Medien.

[/toggle]

[toggle title=“Innovative Milieus in der deutschen Wirtschaft“]

IW Consult hat den das Sinus-Milieumodell auf das Thema Innovation in Unternehmen übertragen. Auch hierbei werden die einzelnen Unternehmen anhand von Werten und Handlungen in verschiedene Milieus eingeteilt. Genauer: Ein innovatives Milieu ist eine branchen- und größenunabhängig definierte Gruppe von Unternehmen, die sich unterscheiden – und zwar an Hand ihres Innovationserfolgs sowie ihres Innovationsprofils.

Der Innovationserfolg der Unternehmen ergibt sich aus der Anzahl der unterschiedlichen Neuerungen in den Bereichen Produkte, Prozesse, Organisation und Marketing. Erstaunlicherweise fehlt hier das Kriterium Geschäftsmodelle, denn vor allem die Unternehmen aus der Digitalwirtschaft sind mit neuartigen Geschäftsmodellen erfolgreich geworden – beispielsweise durch digitalisierte zweiseitige Märkte und Plattformen. Das Fehlen von Geschäftsmodellinnovationen als Dimension kann zu Verzerrungen in den Ergebnissen führen. Denn deutsche Industrieunternehmen experimentieren durchaus mit neuartigen Geschäftsmodellen wie „Druckluft as a Service“.

Das Innovationsprofil eines Unternehmens basiert auf sechs Dimensionen: Innovationsorganisation, -kompetenz, -kultur, interne und externe Vernetzung sowie die Wettbewerbsposition. Die Marktforscher haben mit einer vergleichbaren Methodik wie das Sinus-Institut insgesamt sieben unterschiedliche Milieus identifiziert:

  1. Technologieführer verschieben die technologischen Grenzen regelmäßig weiter nach außen – durch Forschung, Entwicklung und Patente.
  2. Disruptive Innovatoren besitzen eine große Offenheit für Neues, hohe Risikobereitschaft und eine kooperative Unternehmenskultur, die vollständig auf Innovation ausgerichtet.
  3. Konservative Innovatoren sind sehr stark in Forschung und Entwicklung und melden viele Patente an, die Unternehmenskultur ist jedoch nicht ganzheitlich auf Innovation ausgerichtet.
  4. Kooperative Innovatoren besitzen eine kooperative Unternehmenskultur, die stark auf interne Vernetzung ausgerichtet ist. Innovation entsteht hier durch interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Belegschaft.
  5. Zufällige Innovatoren haben weder eine klare Innovationsstrategie noch eine Innovationsorganisation. Innovationen sind hier eher glückliche Zufallstreffer.
  6. Passive Umsetzer sind nicht aus eigenem Antrieb innovativ, sondern reagieren lediglich auf Anregungen ihrer Kunden zur Verbesserung ihrer Produkte und Services.
  7. Unternehmen ohne Innovationsfokus betrachten Innovation nicht als wettbewerbsrelevant.

[/toggle]

Das Milieu der Disruptoren – wie im Silicon Valley?

Auf den ersten Blick sehen die Ergebnisse deutlich weniger schlecht aus, als es in vielen Medienberichten über die Innovationsfeindlichkeit in Wirtschaft und Gesellschaft scheint. Immerhin ist ein gutes Fünftel der Unternehmen hoch innovativ (Innovationserfolg: Leader). Doch ein Blick auf die drei Blasen oben rechts in der Abbildung von IW Consult zeigt, dass die Masse der überhaupt innovativen Unternehmen nur mittelerfolgreich sind.

Ein genauer Blick in die Ergebnisse zeigt darüber hinaus, dass ein großer Teil der hochinnovativen Unternehmen aus klassischen Branchen kommen. So stammen Technologieführer und konservative Innovatoren hauptsächlich aus Chemie, Pharma, Metall und Elektro – oft Großunternehmen. Kooperative Innovation gehören ebenfalls zum Kernbereich der deutschen Wirtschaft. Hier finden sich zahlreiche Organisationen, die unternehmensnahe Dienstleistungen im Angebot haben. Startups der Digitalwirtschaft finden sich zusammen mit anderen IT- und Tech-Unternehmen unter den disruptiven Innovatoren.

„Mit einem Fünftel kommt mir die Zahl der disruptiven Unternehmen in Deutschland ungewöhnlich hoch vor“, wundert sich Innovationsberater Jürgen Stäudtner. Er vermutet, dass dieses Ergebnis die Folge eines sehr breiten Verständnisses von Disruption ist. Clayton M. Christensen, der Theoretiker der technologischen Disruption, beklagt in diesem Interview, dass der Begriff häufig viel zu schwammig genutzt wird. Er macht klar:

Disruption beschreibt einen Prozess, bei dem ein kleines Unternehmen oft mit geringen Ressourcen ein erfolgreiches etabliertes Geschäft herausfordert. […] [Es bietet] einfachere Produkte meist zu einem geringeren Preis an. […] Es gibt aber auch disruptive Firmen, die neue Märkte schaffen, die bisher nicht existiert haben.

Christensen betont, dass nicht jede Neuerung disruptiv ist. Die meisten Innovationen verbessern entweder die Effizienz des Unternehmens oder ein bestimmtes Produkt. Aus seiner Sicht arbeitet die disruptive Innovation anders:

Sie transformiert ein Produkt, das bisher sehr kompliziert und teuer war und macht es einfacher und billiger, so dass es sich mehr und neue Kunden leisten können. Nur diese Form von Innovation führt zu echtem Wachstum. In Deutschland sehe ich da aber bisher kaum etwas.

Disruptive Innovation, staatlich geprüft?

Das soll sich in Zukunft ändern und der Staat will hier ähnlich wie bei der Unternehmensfinanzierung eine starke und aktive Rolle spielen, mit der Agentur für Sprunginnovation. Sie ist im Herbst 2019 in Leipzig gegründet worden. Bisher ist allerdings außer einigen Interviews (etwa im Deutschlandfunk, bei Spiegel Online oder mit der Technology Review) des Gründungsdirektors Rafael Laguna de la Vera noch nicht viel geschehen – kurz vor Weihnachten exisitierte noch nicht einmal eine Website.

Der Name der Agentur enthält einen Neologismus, eine deutsche Version des Begriffes „disruptive Innovation“. De la Vera: „Eine Sprunginnovation ist eine, die unser Leben verändert, wo die Welt danach nicht mehr so ist, wie die Welt vorher war.“ Als Beispiel nennt er Auto, Penicillin, Internet und Smartphone. „Man kann sich nur noch schwer vorstellen, wie man eigentlich vor diesen Erfindungen gelebt hat.“ Aufgabe der Agentur ist es, solche radikalen Neuerungen zu entdecken, zu fördern und in marktreife Produkte umzuwandeln. Denn hier hat Deutschland Defizite.

Häufig genanntes Beispiel ist das Soundformat MP3: am Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen (IIS) in Erlangen erfunden, von ausländischen Unternehmen verwertet. Ähnlich ist es mit dem Lithium-Ionen-Akku. Die grundlegenden Prinzipien sind Mitte der 1970er Jahre an der TU München entwickelt worden, marktreife Produkte kamen Jahre später aus Japan. Die Agentur für Sprunginnovationen soll solche Entwicklungen vermeiden.

Doch kann das gelingen?  Denn ganz offensichtlich mangelte es in den beiden geschilderten Fällen nicht an Erfindungsgeist. Es fehlte eher an der Fähigkeit, in der Erfindung das zukünftige Produkte, Geschäftsmodelle und Märkte zu erkennen. Denn erfinderisch sind viele Menschen, doch eine Erfindung ist noch lange keine Innovation, „die unser Leben verändert“.

Jenseits des Turbokapitalismus

Eine staatliche Agentur wird die Rahmenbedingungen kaum verändern, also weder den Mangel an Risikokapital beheben noch die Innovationsfreude in der Gesellschaft stärken. Deshalb sieht der Wirtschaftsjournalist Gunnar Sohn sehr viele offene Fragen. In einem Überblicksartikel für die Netzpiloten lässt er Skeptiker und vorsichtige Optimisten zu Wort kommen. Zusammengefasst empfehlen er und seine Gesprächspartner einen anderen Weg als den Turbokapitalismus im Stile des Silicon Valley.

Richtig, wir sind hier nicht im Silicon Valley (und auch nicht in Shenzhen). Eine Übertragung der dort gemachten Erfahrungen ist fast unmöglich, denn es gibt hier hierzulande weder die mentalen noch die gesellschaftlichen Voraussetzungen. Gefragt ist letztlich ein Weg zu disruptiven Innovationen, der die kulturellen, sozialen, ökonomischen und politischen Besonderheiten Deutschlands in Rechnung stellt. Das sagt sich einfacher, als es zu leisten ist. Rafael Laguna de la Vera wird hier noch manche Nuss zu knacken haben.

Denn unter anderem ist Deutschland auch das Land, das regelmäßig Zukunftsindustrien vor die Wand fährt. Vor zehn Jahren war es die Solarindustrie und im Moment die Windkraft, ein weiteres Opfer unsinniger Regulierungen. Ist man Verschwörungstheoretiker, wenn man hier den Einfluss von Lobbyisten vermutet? Das setzt sich auch in der EU fort, denn die neuen Einschränkungen von Assistenzsystemen in Autos sinf auffällig genau an den aktuellen Entwicklungsstand bei den europäischen OEMs angepasst.

Anders gefragt: Wollen die politischen und wirtschaftlichen Akteure in Deutschland überhaupt Innovationen, die zum Aufbau von neuen Industrien führen könnten – und zum Abbau der vorhandenen? Möchten sie nicht viel lieber so weitermachen wie bisher? Es gibt zu viele Hinweise, dass die Antwort „Ja“ lautet.

Bildquelle: wowinside / Adobe Stock

Elektrisierend: Der neue VW ID.3

  • © Volkswagen AG
    Der neue VW ID.3 ist da.

Daran habe ich nicht geglaubt: Dass es ausgerechnet einem der größten und (Halten zu Gnaden) von außen komplett einbetoniert wirkenden Konzerne — der Volkswagen AG — gelingt. Nämlich ein Auto der Kompaktklasse zu bauen, das auf Augenhöhe mit Tesla ist; wenigstens auf Zehenspitzen. Natürlich käme es für eine endgültige Bewertung auf einen mehrwöchigen Praxistest an. Mein Erkenntnisse sind zu 100 Prozent theoretisch und gewonnen aus der Auswertung diverser YouTube-Videos und Presseberichte.

Innen ein Passat, außen ein Golf

Von außen wirkt der Wagen modern und elegant, obwohl er eine kurze und auf den ersten Blick etwas knubbelig wirkende Fronthaube hat. Er erinnert damit ein wenig an einen Kompaktvan. Der Wagen ist in etwa so lang wie ein Golf (4,26 m), hat aber dank der verkürzten Front einen deutlich größeren Radstand von 2,77 Metern — was nach Auskunft von Kennern einem Passat entspricht.

Dadurch wirkt der Wagen wie ein quantenphysikalisches Wunder: Er ist innen größer als außen. Das liegt an den üblichen Relationen von Autos der Jetztzeit. Sie sind nämlich insgesamt sehr pausbackig, da die ganze Bordelektrik mit Zillionen Stellmotoren, Knautschzonen und Aufpolsterungen für Airbags und Soundsysteme schließlich untergebracht werden müssen. Das vergrößert die Wagen enorm und der Innenraum wächst nicht mit. Die geringe Größe von Elektromotoren sowie das niedrige Volumen der Zusatzaggregate erlauben deshalb einen deutlich größeren Innenraum bei gleichen Außenmaßen.

Eine weitere Van-Anmutung bewirken die Akku-Packs im Boden. Sie bedingen eine etwas erhöhte Sitzposition, die beim ID.3 allerdings zu einer recht geringen Kopffreiheit führt. Hier hätte VW noch ein paar Zentimeter hinzulegen können. In YouTube-Videos von der IAA war zu sehen, dass Leute meiner Größe (1,91 m) so gerade eben hineinpassen. Meinen Schwager (2,04 m) möchte ich eigentlich nicht im ID.3 sitzen sehen …

Die techno-spartanische Revolution geht weiter

Der Instrumentenbereich ist scheinbar karg eingerichtet. Doch das hat seinen Grund, denn erstens steigt die Anzahl der Funktionen in einem Auto. Dadurch wird die herkömmliche Bedienung über eine Batterie an Knöpfen, Schaltern und Hebeln immer undurchschaubarer. Zweitens ist die Vielzahl der Bauteile schlicht ein Kostenfaktor. Sie müssen eingekauft, Löcher und Verkabelung montiert werden und nicht zuletzt vervielfältigt sich der Montageaufwand durch Konfigurationsoptionen.

Die Vielfalt der Funktionen und Ausstattungsvarianten lässt sich über einen Touchscreen viel leichter abbilden. Per Software kann ohne Kostenaufwand ein Knöpfchen hier oder ein Slider da eingeblendet werden. Darüber hinaus ist es auch möglich, Funktionen jederzeit nachzurüsten. Tesla hat’s vorgemacht, die Benutzeroberfläche des großen Touchscreens in der Mitte hat sich von Versionssprung zu Versionssprung deutlich verändert. Das gibt den Herstellern die Möglichkeit, aus Feedback zu lernen und dabei Verbesserungen sofort allen Kunden verfügbar zu machen.

Software-basierte Instrumentierung wird sicher bald zum Standard in allen Fahrzeugklassen gehören. Zwar kostet auch deren Entwicklung Geld, doch sie ist deutlich flexibler. So ist es möglich, ein Autobetriebssystem zu schaffen, dass für alle Autoklassen vorbereitet ist. Dann unterscheidet sich der Kleinstwagen vom Oberklasse-Flaggschiff auf Seiten der Software nur durch die im „Build“ verwirklichten Funktionen. Und tatsächlich: VW konzipiert zur Zeit ein einheitliches Car-OS, das in allen Modellen aller Marken eingesetzt werden soll.

Die richtige Reichweite für den typischen Fahrer

Praktisch für die Kalkulation des Autokaufs: Den ID.3 gibt es mit gestaffelten Akkugrößen und deshalb auch Staffelpreisen. VW gibt Kapazitäten von 45, 58 und 77 kWh für Reichweiten von 330, 420 und 550 Kilometern an. Sie werden mit dem halbwegs realitätsnahen WLTP-Zyklus bestimmt. Erfahrene Elektroautofahrer sagen, dass diese Angaben allerdings nur dann realistisch sind, wenn der Fahrer ganz entspannt unterwegs ist, etwa auf der Autobahn mit wenig mehr als 100 km/h.

Außerdem hängt die Reichweite auch von der Effizienz der Elektromotoren und der Leistungsentnahme aus den Batterien ab. Das Tesla Model 3 gilt hier als vorbildlich und kann dies auch in der Praxis beweisen: Elektroauto-Pionier Holger Laudeley schafft es, mit seinem Tesla ohne Ladestopp von Bremen nach Berlin zu fahren, indem er mit gemütlichen 90-100 km/h ganz rechts einem Lkw „hinterherökologisiert“. Es bliebe sogar noch genügend Restkapazität übrig, um eine Sightseeingtour durch Berlin zu fahren.

Der kleinste Akku eignet sich für budget-bewusste Wenigfahrer, die das Auto nur selten und über nicht so lange Strecken bewegen. Mal ehrlich: Dieses Nutzungsszenario trifft auf mindestens 90 Prozent aller Autobesitzer zu. Doch auch Pendler sind mit dem Einstiegsmodell gut bedient, eine Tagesleistung von 200+ Kilometern ist drin. Wer jetzt noch zu Hause und am Arbeitsplatz laden kann, hat im laut VW unter 30.000 Euro liegenden Einstiegsmodell eigentlich das ideale Elektroauto. Durch die serienmäßig verfügbare Schnellladung mit 100 Kilowatt sind auch längere Strecken möglich, erfordern aber ein paar Ladestopps mehr als mit dem größten Akku.

Die deutsche Krankheit: Morbus Pretiosa Configuratio

Die deutschen OEMs sind die Weltmeister der verdeckten Preisexplosion. Gerne bewerben sie die Preise der Einstiegsmodelle ohne zusätzliche Pakete und Optionen. Das sieht dann ganz ordentlich und mittelklasse-artig aus. Doch das böse Erwachen kommt, wenn man ein bisschen Komfort, den ein oder anderen Assistenten und ein paar Sicherheitsmerkmale möchte. So ist es auch beim ID.3, viele Komponenten gibt es nur gegen Aufpreis, einige davon sind sogar unerlässlich für das richtige Elektroauto-Feeling.

So besitzt die Serienversion des ID.3 zwar einen Wärmetauscher, aber keine Wärmepumpe — die ist nur zusätzlich zu buchen. Der Unterschied: Der Tauscher führt Wärme ab, die Pumpe beherrscht auch die Gegenrichtung und kann den Akku vorwärmen. Ein Akkumanagement mithilfe von Wärmepumpen ist ideal. Der Grund: Stromaufnahme und -entnahme am Akku sind nur in einem engen Temperaturbereich optimal. Die Wärmepumpe führt die bei schneller Fahrt und schnellem Laden entstehende Wärme ab und temperiert den kalten Akku im Winter vor. Zudem ermöglicht sie auch eine effiziente Innenraumheizung, die nicht rein elektrisch ist und das Bordnetz belastet.

Eine Wärmepumpe hat zudem den Vorteil, dass die hohen Geschwindigkeiten des DC-Ladens in jeder Situation ausgenutzt werden können. Denn Leistungseinbrüche gibt es ohne dieses Gerät nach schnellen oder langen Fahrten sowie nach Kurzstrecken bei winterlichen Temperaturen. Gut, das sich VW bei dieser Technologie an Tesla orientiert hat; schlecht, das es die Wärmepumpe nur gegen Aufpreis gibt. In der Praxis wird sich zeigen, wie gut der Wärmetauscher arbeitet oder ob es wie beim Nissan Leaf 2 zu Problemen auf längeren Fahrten mit mehreren Ladestopps kommt — dort bricht die Ladeleistung mit jedem Stopp immer weiter ein.

Motorleistung: Ausreichend in jeder Situation

Ungewöhnlich für VW ist die einheitliche Motorisierung der drei Varianten. So gibt es ausreichende 150 PS (110 kW) mit beeindruckenden 310 Newtonmetern Drehmoment. Zum Vergleich: Der in der Leistung vergleichbare 1,5 l TSI-Motor bringt in einem Golf mit Doppelkupplungsgetriebe etwa 250 Newtonmeter bei optimaler Drehzahl. Auch die Beschleunigung des Elektroautos ist besser, die Version mit 77 kW Akku ruft enorme Leistung ab und bringt es in 7,5 Sekunden auf 100 km/h. Der TSI braucht fast eine Sekunde mehr.

Doch bei Elektromotoren ist die Frage nach der Leistung im Grunde überflüssig, sie ist normalerweise in jeder Situation ausreichend. Cool ist allerdings das bei Elektromotoren sehr hohe und praktisch direkt nach dem Anrollen wirksame Drehmoment. Normalerweise schlägt ein Elektroauto beim Ampelstart jedes Verbrennerfahrzeug mit gleicher Leistung und zwar völlig problemlos. Und seien wir (wieder einmal) ehrlich: Schon geil, dass man mit dem Tesla Model 3 Perfomance eine Endgeschwindigkeit von 261 km/h erreicht – aber wo sollte man so schnell fahren und warum?

Ebenso ungewöhnlich für VW ist der Heckantrieb. Doch dieses Antriebskonzept hat in einem Elektroauto erhebliche Vorteile. Es erlaubt erstens die kurze Front bei großen Innenraum und zweitens ein vergleichsweise sportliches Fahrverhalten — ein Praxistest müsste aber die theoretische Aussage prüfen. Auch im Winter sollte der Heckantrieb wegen der Motorposition an der Hinterachse unproblematisch sein, zumal die Zusatzaggregate vorne liegen und die Straßenlage verbessern. Zum Vergleich: Fahrer von Teslas mit Heckantrieb berichten von einem völlig problemlosen Fahrverhalten bei Schnee.

Wenn der Riesentanker eine Heckwende macht

Der ID.3 ist ein Fahrzeug der Golfklasse und richtet sich damit an durchschnittliche Autofahrer(innen) mit einem durchschnittlichen „Use Case“. Er ist aufgrund seines großen Innenraums und des normal dimensionierten Kofferraums ein guter und bequemer Familienwagen für bis zu vier Personen. Außer für Vielfahrer und Langstreckenpendler sollte die Basisversion mit der geringsten Reichweite ausreichen, aber im Alltag kaufen die meisten Leute lieber einen Sicherheitspuffer dazu. Sie fahren also eigentlich zu groß dimensionierte Autos. Das wird beim ID.3 nicht anders sein.

Dem Volkswagen-Konzern ist es gelungen, ein wirklich gutes Elektroauto auf den Markt zu bringen. Es befriedigt die Erwartungen und Wünsche der heutigen Autofahrer, berücksichtigt die Besonderheiten von Elektroautos und weist in die Zukunft — etwa durch den Einsatz von Touchscreens, Head-up-Displays und berührungsaktiven Knöpfen (wo es sie überhaupt noch gibt). Weder bei der Ausstattung noch bei der Reichweite müssen die Käufer große Kompromisse eingehen.

Doch wird der Wagen auch ein Verkaufsrenner? Das ist schwer vorherzusagen, denn die Preise sind schon ganz ordentlich. So wird für eine Vollausstattung mit großem Akku vermutlich ein Preis jenseits der 50.000 Euro fällig. Hier befindet sich VW in Tesla-Dimensionen, das Model 3 Performance kostet ohne weitere Optionen ähnlich viel. Der vergleichsweise hohe Preis ist den im Moment noch hohen Akkupreisen geschuldet, denn VW muss Zellen zukaufen, während Tesla sie selbst herstellt. Das zeigt, dass die deutschen OEMs spät dran sind. Trotz seiner hohen Qualität muss der ID.3 erst noch zeigen, ob er VW zum elektromobilen Erfolg führt.

Der Phonophor & das iPhone

Steve Jobs gilt als Erfinder des iPhones, doch das ist nicht ganz richtig. Denn eine genuine Erfindung ist es nicht, eher ein Konglomerat aus vorhandener Technik. So gab es 2007, im Jahr der Einführung des iPhones, bereits Smartphones. Sie besaßen oft eine Minitastatur und manchmal einen Touchscreen, der mit einem kleinen Stift bedient wurde. Das war immer ziemlich fummelig, sodass Jobs auf die Tastatur verzichtete und stattdessen einen Touchscreen nutzte, der sich mit den Fingern bedienen ließ.

Der Rest ist Geschichte. Das iPhone fand mit den kostengünstigen Android-Smartphones Nachahmer für den Massenmarkt und so haben heute viele zu jeder Zeit und an jedem Ort ein Smartphone dabei — das kleine und leichte Universalgerät rund um Kommunikation, Information und Wissen.

Ein Vorläufer des Smartphones

Wenn es so etwas wie einen Erfinder dieser Geräteklasse gibt, dann ist das erstaunlicherweise ein deutscher Schriftsteller, der 1895 geboren wurde: Ernst Jünger. Er hat nach 1945 den Pfad des Kriegers verlassen und mit unterschiedlichen literarischen Genres experimentiert, unter anderem mit utopischen Romanen.

Sein erster Versuch in diesem Genre war Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt von 1949. Das Buch bietet keine Science-Fiction in der Nachfolge von Hans Dominik, sondern eine Utopie im Stile Thomas Morus‘ — den Entwurf einer fiktiven Gesellschaft, die andere historische und gesellschaftliche Traditionen besitzt. In dem Buch ist sie autokratisch organisiert, so gibt es unter anderem eine ständige Überwachung aller Bürger.

Vehikel dafür ist der Phonophor (Allsprecher), der als eine Art Mobiltelefon allerlei Zusatzfunktionen besitzt, inklusive Personenidentifikation, Navigation, Geldbörse und einer Möglichkeit zur Anpeilung. Der Phonophor gehört zusammen mit Dingen wie Weltraumfahrt, Strahlenwaffen und Schwebepanzern zum futuristischen Hintergrundgemälde des Buches. Jünger hat dieses Szenario allerdings nur wenig ausgearbeitet. Es ist in erster Linie eine Markierung, die den Roman zeitlich in der Zukunft verankert. Doch zu seiner Idee des Phonophor schreibt Jünger etwas ausführlicher.

Die Vorzüge von Telefon und Radio

Ein Phonophor wird als flache Hülse in der linken Brusttasche getragen, aus der er fingerbreit hervorragt.

[Ein Phonophor überträgt] Orts- und astronomische Zeit, Länge und Breite, Wetterstand und Wettervoraussage. Ersetzt Kennkarte, Pässe, Uhr, Sonnenuhr und Kompaß, nautisches und meteorologisches Gerät. Vermittelt automatisch die genaue Position des Trägers an alle Rettungswarten bei Gefahren zu Lande, auf dem Wasser und in der Luft. Verweist im Peilverfahren an jeden Ort. Weist auf den Kontostand des Trägers beim Energeion und ersetzt auf diese Weise das Scheckbuch bei jeder Bank und jeder Postanstalt, und in unmittelbarer Verrechnung die Fahrkarten auf allen Verkehrsmitteln. Gilt auch als Ausweis, wenn die Hilfe der örtlichen Behörden in Anspruch genommen wird. Verleiht bei Unruhen Befehlsgewalt.

Vermittelt die Programme aller Sender und Nachrichten-Agenturen, Akademien, Universitäten, sowie die Permanentsendungen des Punktamtes und des Zentralarchivs. Hat Anschluß an alle Radiostationen mit ihren Strömen des Wissens, der Bildung und Unterhaltung, soweit sie durch Ton und Wort zu übermitteln sind. Gibt Einblick in alle Bücher und Manuskripte, soweit sie durch das Zentralarchiv akustisch aufgenommen sind, ist an Theater, Konzerte, Börsen, Lotterien, Versammlungen, Wahlakte und Konferenzen anzuschließen, und kann als Zeitung, als ideales Auskunftsmittel, als Bibliothek und Lexikon verwandt werden. Gewährt Verbindung mit jedem anderen Phonophor der Welt, mit Ausnahme der Geheimnummern der Regierungen, der Generalstäbe und der Polizei. Ist gegen Anrufe abschirmbar. Auch kann eine beliebige Menge von Anschlüssen gleichzeitig belegt werden – das heißt, daß Konferenzen, Vorträge, Wahlakte, Beratungen möglich sind. Auf diese Weise vereinen sich die Vorzüge der Telephone mit denen der Radios.

Ernst Jünger: Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt, Berlin 1948

Zusammenführen und weiterdenken

Diese Erklärungen und vor allem der letzte Satz zeigen deutlich, dass der Phonophor ausschließlich eine Sprachschnittstelle nutzt. Ein kleiner Minibildschirm mit Bedienung per Berührung war für Jünger damals unvorstellbar. Zwar kannte er mit hoher Wahrscheinlichkeit die ersten TV-Versuche in den 193oer Jahren und die darin benutzte monströse Technik. Doch er hat sie wohl als nicht für die Miniaturisierung geeignet betrachtet.

Denn der beinahe wichtigste Aspekt des Phonophors ist seine Kleinheit. Jünger hat scharfsinnig erkannt, dass technische Geräte im Laufe der Zeit schrumpfen. Er hat auch in anderer Hinsicht bereits vorhandene Phänomene weitergedacht. So sagten die Mitarbeiterinnen der Handvermittlung im Fernsprechamt seit Anfang des 20. Jahrhunderts auf Wunsch auch die Uhrzeit an. Ab 1937 wurde die Zeitansage automatisiert und von hier bis zum akustischen Lexikon ist es nur ein kurzer Denkschritt.

Ernst Jünger hat etwas ähnliches gemacht wie sechs Jahrzehnte später Steve Jobs. Er hat die vorhandene Technik weitergedacht und zusammengeführt. Aber anders als Jobs musste er sich um die Verwirklichung keine Gedanken machen, sodass manche Funktion eher umständlich ist. Denn gegenüber Audio und Video hat die Textkommunikation einen großen Vorteil: Sie ist schnell. Viele Leute lesen ein Buch rascher als sie es in einem Audiobook anhören könnten.

Innovation bedeutet nicht: Völlig neu

An der verblüffenden Ähnlichkeit des Phonophor mit dem iPhone lässt sich zeigen, was Innovation wirklich bedeutet und was nicht. Beide Geräte sind innovativ, weil sie vorhandene Ideen bündeln und zu einer Novität zuspitzen. Sie sind jedoch nicht fundamental neu. Ein Innovator hat immer einen Ausgangspunkt — er muss die Innovation ja denken können, auf der Basis seines aktuellen Wissensstands.

Doch er darf nicht dabei stehenbleiben. Ein erfolgreicher Innovator stellt gängige Denkmuster infrage und gibt sich nicht mit scheinbaren Naturgesetzlichkeiten zufrieden. Nur weil eine Sache immer schon auf eine bestimmte Weise gemacht wurde, bedeutet das nicht, dass es nicht auch anders geht. Und nur weil eine Sache noch nie gemacht wurde, ist sie nicht grundsätzlich unmöglich.

Entscheidend ist ein frischer Blick auf Selbstverständlichkeiten und der kommt meist von außen. So haben häufig fachliche Außenseiter gute, innovative Ideen, denn sie sind mit den Konventionen und Traditionen eines Sachgebiets nicht vertraut. Beides kann durchaus hinderlich sein. Wie sagte der Dadaist Francis Picabia 1922? „Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.“

Graphen: Das Milliarden-Euro-Zaubermittel

Kohlenstoff: Aus ihm sind die Zukunftsträume © Kumbabali - Fotolia.com
Kohlenstoff: Aus ihm sind die Zukunftsträume © Kumbabali – Fotolia.com

„Wunderwerkstoff Graphen“, „Härter als Diamant und stärker als Stahl“, „Dieses Material bedeutet die Zukunft“, „Graphen: Apples neuer Hightech-Werkstoff?“ Ein paar Überschriften der letzten Zeit aus Technikmedien. Sie haben damit offensichtlich den Stein der Weisen gefunden, der alle Probleme löst.

Der Grund für die hohe Aufmerksamkeit ist die ungewöhnliche zweidimensionale Wabenstruktur. Dabei ist Graphen chemisch gar nicht so besonders. Es basiert auf Graphit, einem kristallinen Kohlenstoff, der sich auch in Bleistiftminen findet. Der besitzt wie jedes andere Kristall eine dreidimensionale Struktur.

Graphen dagegen ist nur eine Atomlage dick – also extrem dünn. Der Trick: Die ultradünne Schicht wird wie eine Folie von Graphit abgenommen. In der Anfangszeit der Erforschung wurde der Stoff tatsächlich mittels Klebeband von einem Graphitblock abgezogen, heute wird er meist durch eine chemische Reaktion auf einem Trägerstoff abgeschieden.

Beide Verfahren erzeugen ein flaches Etwas, das eine mit herkömmlichen Techniken nicht mehr messbare Dicke besitzt. Es ist in einem praktischen Sinne zweidimensional, was nicht nur Laien überrascht. Denn das Verblüffende an einer 2D-Struktur wie Graphen ist seine Existenz.

Zweidimensionale Strukturen

Bis vor gut zehn Jahren galt: Solche Dinge sind stabil und zerfallen wieder, da sich bei einem Atom Dicke keine Kristalle bilden können und die Bindekraft der Einzelatome nachlässt. 2004 stellten die Nobelpreisträger (2010) André Geim und Konstantin Novoselov an der Universität Manchester fest: Graphen hält sich nicht an die Theorie und bleibt stabil.

Die zweidimensionale Wabenstruktur von Graphen © ogwen – Fotolia.com

Wegen seiner Leitfähigkeit und Flexibilität sorgt Graphen in Forschung und Industrie für großes Aufsehen. Laut zahlreichen Medienberichten soll es sich für ziemlich viel eignen: Mikrochips, flexible Touchscreens, durchsichtige Solarzellen auf Fenstern, federleichter Nässeschutz für Fasern und vieles mehr. Ein Zaubermaterial halt.

„Also, für Logikschaltungen in Mikrochips eignet sich Graphen schon mal nicht“, erdet Prof. Dr.-Ing. Max Lemme die Diskussion. Er leitet den Lehrstuhl für Graphen-basierte Nanotechnologie an der Universität Siegen und erklärt: „Es ist kein Halbleiter, weshalb die aktuelle Forschung wieder von dieser Anwendung abgerückt ist.“

Er ergänzt: „Da eignen sich andere Stoffe viel besser, zum Beispiel Molybdändisulfid.“ Das ist eigentlich ein trockenes Schmiermittel mit einer Graphit-ähnlichen Konsistenz. Es ist in der Autoindustrie schon lange bekannt, als Hauptbestandteil eines viel genutzten Motoröl-Additivs.

Die Forschung kennt inzwischen etwa 500 verschiedene Stoffe, die ähnliche Eigenschaften wie Graphen oder Molybdändisulfid haben. In den Medien ist aber vorwiegend von dem zweidimensionalen Kohlenstoff die Rede die Rede. Es besitzt eine Reihe von interessanten Eigenschaften – ein großes Potential.

Für eine fast nicht vorhandene Atomlage ist das Material ziemlich fest. Es ist biegsam, undurchlässig für Flüssigkeiten und Gase, härter als Diamant und sogar 125mal zugfester als Stahl. „Natürlich immer bezogen auf die Dicke der Graphenschicht“, zerstört Max Lemme direkt die sich aufdrängende Vorstellung von Alien-Technologie aus der Festung der Einsamkeit. „Graphen ist wie jede Struktur dieser Art eigentlich sogar sehr zerbrechlich.“

Flexible Smartphones

Einfach Graphen anfassen und schauen, ob es wirklich so durchsichtig wie Glas ist – das geht nicht. Entsprechend arbeitet Lemme in seinem Siegener Labor nicht mit der Hand und Graphen-Blättern oder wie auch immer sich der Alltagsverstand den Umgang mit diesem Material vorstellt.

Er nutzt runde Scheiben („Wafer“) aus Silizium, wie in der Halbleiterindustrie üblich. Auf ihnen befindet sich eine Schicht reines Graphen. Lemme geht wie jeder Forscher vor: Er experimentiert, misst, probiert allerlei Varianten aus und ermittelt, wie Graphen auf Elektrizität reagiert oder mit anderen Werkstoffen zusammenarbeitet.

So könnte ein flexibles Smartphone mit Graphen-beschichtetem Display aussehen © bonninturina - Fotolia.com
So könnte ein flexibles Smartphone mit Graphen-beschichtetem Display aussehen © bonninturina – Fotolia.com

Ein möglicher Anwendungsbereich sind Touchscreens von Mobilgeräten. Science-Fiction-Fans kennen das aus dutzenden Filmen: Ein eher schmales Mobiltelefon, aus dem am Rand ein flexibles und recht großes Touchscreen-Display herausgezogen wird. Vorher war es aufgerollt im Inneren des Gerätes.

Mit Graphen rückt ein solches Gerät in greifbare Nähe. Die Schicht des Materials arbeitet als ultraleichte „Touch-Folie“ und könnte zusammen mit einem biegsamen Display zu einer Art aufrollbarem Smartphone werden. Auch für Displays kann Graphen nützlich sein, denn damit sind sehr große, aber trotzdem leichte Touchscreens im Leinwandformat möglich.

Eine andere Idee, der Lemme und seine Kollegen aus der Graphen-Forschung nachgehen: Graphen könnte in Kombination mit herkömmlichen Silizium-Schaltkreisen zu einer erweiterten Funktionalität führen. So ist es denkbar, Computerchips mit Graphen-Sensoren auszustatten oder kostengünstig um „Wireless“-Fähigkeiten zu erweitern.

Ebenso könnte Graphen mit Hilfe eines Druckers auf einem Trägerstoff ausgegeben werden, so dass zum Beispiel die leitfähigen Schichten für Schaltkreise damit ausgedruckt werden können. Welche dieser und einer ganzen Reihe anderer Anwendungen sich letztendlich in der Praxis durchsetzen wird, ist noch offen. Aber es wird viel geforscht, auf der ganzen Welt, an Universitäten und in Unternehmen.

So ist beispielsweise auch Samsung sehr aktiv in der Graphen-Forschung. Und die Europäische Kommission hat kürzlich ein riesiges Verbundprojekt aufgelegt, bei dem in den nächsten Jahren eine gute Milliarde Euro für die Forschung an und mit Graphen ausgegeben wird.

Profitabler Anlagenmarkt

„Die anwendungsorientierte Forschung zu Graphen erfordert noch viel Arbeit“, meint Lemme mit Blick auf seine Kooperation mit Infineon und anderen Unternehmen. Es sei denkbar, dass von den vielen Möglichkeiten letztlich nur wenige übrig bleiben. Lemme ist die Medienpräsenz des Stoffes etwas unheimlich, denn sie weckt Erwartungen, die der Realität vielleicht nicht standhalten – diese Möglichkeit gibt es in der Wissenschaft immer.

Zugespitzt ausgedrückt: Graphen kann ähnlich wie die Kohlenstoffnanoröhre vom umjubelten heiligen Gral der Materialforschung zur Randexistenz abstürzen. Der Hype um Graphen ist zwar gigantisch, doch dahinter verbirgt sich bereits jetzt ein Markt, allerdings ein winziger.

Eine Anlage für die Graphen-Herstellung © AIXTRON
Eine Anlage für die Graphen-Herstellung © AIXTRON

„Unsere Anlagenverkäufe sind zuletzt deutlich gestiegen und haben sich zu einem profitablen Geschäft entwickelt“, sagt Prof. Dr. Michael Heuken, Leiter der Forschungsabteilung von AIXTRON, einem weltweit führenden Anbieter von Beschichtungsanlagen für die Halbleiterindustrie. Das Unternehmen aus Herzogenrath bei Aachen ist einer der wenigen Lieferanten von Industrie- und Forschungsanlagen, die Graphen-Wafer in größeren Mengen produzieren können.

„Als Anlagenhersteller profitieren wir von so einer Entwicklung natürlich in einem sehr frühen Stadium“, sagt Heuken und schränkt ein: „Allerdings entspricht das derzeit noch einem sehr kleinen Teil unseres Gesamtumsatzes.“ Eines ist jedoch sicher: Wenn sich der Markt so entwickelt, wie das die Teilnehmer am EU-Projekt und alle anderen Graphen-Fans sich vorstellen, spielen die Maschinenbauer aus dem Rheinland in vorderster Linie mit.

Zur Zeit handelt es sich für das mittelständische Unternehmen um eine Wette auf die Zukunft: Es baut einerseits Knowhow in einer möglichen Erfolgsbranche auf. Andererseits bildet es einen kleinen Kundenstamm in Universitäten und Forschungsabteilungen. Der kann sich aber jederzeit erweitern. Wenn Graphen ein Hit wird, landen viele Mitarbeiter aus der Forschung als Manager in der produzierenden Industrie und bestellen vielleicht lieber in Herzogenrath als anderswo.

Graphen mag ein Wundermaterial sein, doch das ist erst der Anfang. Wird es ein Erfolg? Und wenn ja, in welchem Einsatzgebiet? Das EU-Projekt begeht nicht den Fehler, sich auf einen einzelnen Bereich zu stürzen. So relativiert sich dann auch die gigantisch wirkende Milliarde, die über 10 Jahre hinweg an 75 Forschergruppen in 17 EU-Ländern verteilt wird.

Konzerne wie Samsung dagegen forschen deutlich enger gefasst an ganz bestimmten Anwendungen. Der koreanische Elektronikriese setzt auf Graphen, da es eine Lösung für biegsame Smartphones ist. Ein Erfolg würde seine Position im Smartphone-Markt auf Jahre hinaus zementieren.

Auch hier wieder die bei innovativen Unternehmen typische Wette auf die Zukunft. Entscheidend für die europäische Wirtschaft ist, rasch Top-Anwendungen von den Flops zu trennen und dann zu verhindern, dass die entsprechenden Produkte für Endanwender woanders hergestellt werden.

Bilder: © Kumbabali – Fotolia.com, © ogwen – Fotolia.com, © bonninturina – Fotolia.com, © AIXTRON