Daran habe ich nicht geglaubt: Dass es ausgerechnet einem der größten und (Halten zu Gnaden) von außen komplett einbetoniert wirkenden Konzerne — der Volkswagen AG — gelingt. Nämlich ein Auto der Kompaktklasse zu bauen, das auf Augenhöhe mit Tesla ist; wenigstens auf Zehenspitzen. Natürlich käme es für eine endgültige Bewertung auf einen mehrwöchigen Praxistest an. Mein Erkenntnisse sind zu 100 Prozent theoretisch und gewonnen aus der Auswertung diverser YouTube-Videos und Presseberichte.
Innen ein Passat, außen ein Golf
Von außen wirkt der Wagen modern und elegant, obwohl er eine kurze und auf den ersten Blick etwas knubbelig wirkende Fronthaube hat. Er erinnert damit ein wenig an einen Kompaktvan. Der Wagen ist in etwa so lang wie ein Golf (4,26 m), hat aber dank der verkürzten Front einen deutlich größeren Radstand von 2,77 Metern — was nach Auskunft von Kennern einem Passat entspricht.
Dadurch wirkt der Wagen wie ein quantenphysikalisches Wunder: Er ist innen größer als außen. Das liegt an den üblichen Relationen von Autos der Jetztzeit. Sie sind nämlich insgesamt sehr pausbackig, da die ganze Bordelektrik mit Zillionen Stellmotoren, Knautschzonen und Aufpolsterungen für Airbags und Soundsysteme schließlich untergebracht werden müssen. Das vergrößert die Wagen enorm und der Innenraum wächst nicht mit. Die geringe Größe von Elektromotoren sowie das niedrige Volumen der Zusatzaggregate erlauben deshalb einen deutlich größeren Innenraum bei gleichen Außenmaßen.
Eine weitere Van-Anmutung bewirken die Akku-Packs im Boden. Sie bedingen eine etwas erhöhte Sitzposition, die beim ID.3 allerdings zu einer recht geringen Kopffreiheit führt. Hier hätte VW noch ein paar Zentimeter hinzulegen können. In YouTube-Videos von der IAA war zu sehen, dass Leute meiner Größe (1,91 m) so gerade eben hineinpassen. Meinen Schwager (2,04 m) möchte ich eigentlich nicht im ID.3 sitzen sehen …
Die techno-spartanische Revolution geht weiter
Der Instrumentenbereich ist scheinbar karg eingerichtet. Doch das hat seinen Grund, denn erstens steigt die Anzahl der Funktionen in einem Auto. Dadurch wird die herkömmliche Bedienung über eine Batterie an Knöpfen, Schaltern und Hebeln immer undurchschaubarer. Zweitens ist die Vielzahl der Bauteile schlicht ein Kostenfaktor. Sie müssen eingekauft, Löcher und Verkabelung montiert werden und nicht zuletzt vervielfältigt sich der Montageaufwand durch Konfigurationsoptionen.
Die Vielfalt der Funktionen und Ausstattungsvarianten lässt sich über einen Touchscreen viel leichter abbilden. Per Software kann ohne Kostenaufwand ein Knöpfchen hier oder ein Slider da eingeblendet werden. Darüber hinaus ist es auch möglich, Funktionen jederzeit nachzurüsten. Tesla hat’s vorgemacht, die Benutzeroberfläche des großen Touchscreens in der Mitte hat sich von Versionssprung zu Versionssprung deutlich verändert. Das gibt den Herstellern die Möglichkeit, aus Feedback zu lernen und dabei Verbesserungen sofort allen Kunden verfügbar zu machen.
Software-basierte Instrumentierung wird sicher bald zum Standard in allen Fahrzeugklassen gehören. Zwar kostet auch deren Entwicklung Geld, doch sie ist deutlich flexibler. So ist es möglich, ein Autobetriebssystem zu schaffen, dass für alle Autoklassen vorbereitet ist. Dann unterscheidet sich der Kleinstwagen vom Oberklasse-Flaggschiff auf Seiten der Software nur durch die im „Build“ verwirklichten Funktionen. Und tatsächlich: VW konzipiert zur Zeit ein einheitliches Car-OS, das in allen Modellen aller Marken eingesetzt werden soll.
Die richtige Reichweite für den typischen Fahrer
Praktisch für die Kalkulation des Autokaufs: Den ID.3 gibt es mit gestaffelten Akkugrößen und deshalb auch Staffelpreisen. VW gibt Kapazitäten von 45, 58 und 77 kWh für Reichweiten von 330, 420 und 550 Kilometern an. Sie werden mit dem halbwegs realitätsnahen WLTP-Zyklus bestimmt. Erfahrene Elektroautofahrer sagen, dass diese Angaben allerdings nur dann realistisch sind, wenn der Fahrer ganz entspannt unterwegs ist, etwa auf der Autobahn mit wenig mehr als 100 km/h.
Außerdem hängt die Reichweite auch von der Effizienz der Elektromotoren und der Leistungsentnahme aus den Batterien ab. Das Tesla Model 3 gilt hier als vorbildlich und kann dies auch in der Praxis beweisen: Elektroauto-Pionier Holger Laudeley schafft es, mit seinem Tesla ohne Ladestopp von Bremen nach Berlin zu fahren, indem er mit gemütlichen 90-100 km/h ganz rechts einem Lkw „hinterherökologisiert“. Es bliebe sogar noch genügend Restkapazität übrig, um eine Sightseeingtour durch Berlin zu fahren.
Der kleinste Akku eignet sich für budget-bewusste Wenigfahrer, die das Auto nur selten und über nicht so lange Strecken bewegen. Mal ehrlich: Dieses Nutzungsszenario trifft auf mindestens 90 Prozent aller Autobesitzer zu. Doch auch Pendler sind mit dem Einstiegsmodell gut bedient, eine Tagesleistung von 200+ Kilometern ist drin. Wer jetzt noch zu Hause und am Arbeitsplatz laden kann, hat im laut VW unter 30.000 Euro liegenden Einstiegsmodell eigentlich das ideale Elektroauto. Durch die serienmäßig verfügbare Schnellladung mit 100 Kilowatt sind auch längere Strecken möglich, erfordern aber ein paar Ladestopps mehr als mit dem größten Akku.
Die deutsche Krankheit: Morbus Pretiosa Configuratio
Die deutschen OEMs sind die Weltmeister der verdeckten Preisexplosion. Gerne bewerben sie die Preise der Einstiegsmodelle ohne zusätzliche Pakete und Optionen. Das sieht dann ganz ordentlich und mittelklasse-artig aus. Doch das böse Erwachen kommt, wenn man ein bisschen Komfort, den ein oder anderen Assistenten und ein paar Sicherheitsmerkmale möchte. So ist es auch beim ID.3, viele Komponenten gibt es nur gegen Aufpreis, einige davon sind sogar unerlässlich für das richtige Elektroauto-Feeling.
So besitzt die Serienversion des ID.3 zwar einen Wärmetauscher, aber keine Wärmepumpe — die ist nur zusätzlich zu buchen. Der Unterschied: Der Tauscher führt Wärme ab, die Pumpe beherrscht auch die Gegenrichtung und kann den Akku vorwärmen. Ein Akkumanagement mithilfe von Wärmepumpen ist ideal. Der Grund: Stromaufnahme und -entnahme am Akku sind nur in einem engen Temperaturbereich optimal. Die Wärmepumpe führt die bei schneller Fahrt und schnellem Laden entstehende Wärme ab und temperiert den kalten Akku im Winter vor. Zudem ermöglicht sie auch eine effiziente Innenraumheizung, die nicht rein elektrisch ist und das Bordnetz belastet.
Eine Wärmepumpe hat zudem den Vorteil, dass die hohen Geschwindigkeiten des DC-Ladens in jeder Situation ausgenutzt werden können. Denn Leistungseinbrüche gibt es ohne dieses Gerät nach schnellen oder langen Fahrten sowie nach Kurzstrecken bei winterlichen Temperaturen. Gut, das sich VW bei dieser Technologie an Tesla orientiert hat; schlecht, das es die Wärmepumpe nur gegen Aufpreis gibt. In der Praxis wird sich zeigen, wie gut der Wärmetauscher arbeitet oder ob es wie beim Nissan Leaf 2 zu Problemen auf längeren Fahrten mit mehreren Ladestopps kommt — dort bricht die Ladeleistung mit jedem Stopp immer weiter ein.
Motorleistung: Ausreichend in jeder Situation
Ungewöhnlich für VW ist die einheitliche Motorisierung der drei Varianten. So gibt es ausreichende 150 PS (110 kW) mit beeindruckenden 310 Newtonmetern Drehmoment. Zum Vergleich: Der in der Leistung vergleichbare 1,5 l TSI-Motor bringt in einem Golf mit Doppelkupplungsgetriebe etwa 250 Newtonmeter bei optimaler Drehzahl. Auch die Beschleunigung des Elektroautos ist besser, die Version mit 77 kW Akku ruft enorme Leistung ab und bringt es in 7,5 Sekunden auf 100 km/h. Der TSI braucht fast eine Sekunde mehr.
Doch bei Elektromotoren ist die Frage nach der Leistung im Grunde überflüssig, sie ist normalerweise in jeder Situation ausreichend. Cool ist allerdings das bei Elektromotoren sehr hohe und praktisch direkt nach dem Anrollen wirksame Drehmoment. Normalerweise schlägt ein Elektroauto beim Ampelstart jedes Verbrennerfahrzeug mit gleicher Leistung und zwar völlig problemlos. Und seien wir (wieder einmal) ehrlich: Schon geil, dass man mit dem Tesla Model 3 Perfomance eine Endgeschwindigkeit von 261 km/h erreicht – aber wo sollte man so schnell fahren und warum?
Ebenso ungewöhnlich für VW ist der Heckantrieb. Doch dieses Antriebskonzept hat in einem Elektroauto erhebliche Vorteile. Es erlaubt erstens die kurze Front bei großen Innenraum und zweitens ein vergleichsweise sportliches Fahrverhalten — ein Praxistest müsste aber die theoretische Aussage prüfen. Auch im Winter sollte der Heckantrieb wegen der Motorposition an der Hinterachse unproblematisch sein, zumal die Zusatzaggregate vorne liegen und die Straßenlage verbessern. Zum Vergleich: Fahrer von Teslas mit Heckantrieb berichten von einem völlig problemlosen Fahrverhalten bei Schnee.
Wenn der Riesentanker eine Heckwende macht
Der ID.3 ist ein Fahrzeug der Golfklasse und richtet sich damit an durchschnittliche Autofahrer(innen) mit einem durchschnittlichen „Use Case“. Er ist aufgrund seines großen Innenraums und des normal dimensionierten Kofferraums ein guter und bequemer Familienwagen für bis zu vier Personen. Außer für Vielfahrer und Langstreckenpendler sollte die Basisversion mit der geringsten Reichweite ausreichen, aber im Alltag kaufen die meisten Leute lieber einen Sicherheitspuffer dazu. Sie fahren also eigentlich zu groß dimensionierte Autos. Das wird beim ID.3 nicht anders sein.
Dem Volkswagen-Konzern ist es gelungen, ein wirklich gutes Elektroauto auf den Markt zu bringen. Es befriedigt die Erwartungen und Wünsche der heutigen Autofahrer, berücksichtigt die Besonderheiten von Elektroautos und weist in die Zukunft — etwa durch den Einsatz von Touchscreens, Head-up-Displays und berührungsaktiven Knöpfen (wo es sie überhaupt noch gibt). Weder bei der Ausstattung noch bei der Reichweite müssen die Käufer große Kompromisse eingehen.
Doch wird der Wagen auch ein Verkaufsrenner? Das ist schwer vorherzusagen, denn die Preise sind schon ganz ordentlich. So wird für eine Vollausstattung mit großem Akku vermutlich ein Preis jenseits der 50.000 Euro fällig. Hier befindet sich VW in Tesla-Dimensionen, das Model 3 Performance kostet ohne weitere Optionen ähnlich viel. Der vergleichsweise hohe Preis ist den im Moment noch hohen Akkupreisen geschuldet, denn VW muss Zellen zukaufen, während Tesla sie selbst herstellt. Das zeigt, dass die deutschen OEMs spät dran sind. Trotz seiner hohen Qualität muss der ID.3 erst noch zeigen, ob er VW zum elektromobilen Erfolg führt.