Wenn ein Porträt Deutschlands mit dem Versailler Vertrag beginnt, kann es sich eigentlich nur um einen Abgesang handeln. Und so liest sich der Artikel aus der Business Week vom April 2019: „Deutschland wirkt, als würde es in den letzten Tagen einer Ära leben; da ist diese Atmosphäre des bevorstehenden Wandels, für den niemand bereit zu sein scheint. Das Land bleibt zwar reich und politisch stabil, aber es ist schwer, sich dem Eindruck zu entziehen, dass die Deutschen selbstgefällig auf die Bedrohung ihres Wohlstands reagieren.“
Darauf folgen ein paar Stichworte, die uns auch von den eigenen Medien regelmäßig um die Ohren gehauen werden: Kanzlerinnendämmerung, Ende des Verbrennungsmotors, sklerotischer Bankensektor, Gegenwind durch globale Handelskriege, alarmierend geringes Wachstum. Doch die Business Week sieht neben viel Schatten auch ein wenig Licht: „Die Menge an kleinen und mittelgroßen Unternehmen, aus denen sich der mächtige deutsche Mittelstand zusammensetzt, bleiben innovativ und hochspezialisiert in ihren Premium-Nischen. Deutschland liegt bei der Automatisierung auf dem dritten Platz weltweit. Der Wechsel zu sauberem Strom hat es zu einem globalen Zentrum für erneuerbare Energien gemacht.“
Aus der Außensicht wirkt die Situation der hiesigen Wirtschaft durchwachsen. Doch wenigstens in Apokalyptik wollen die Deutschen Weltmeister sein. „Technologisch fast abgehängt: Deutschlands Wohlstand in ernster Gefahr“, titelte die Wirtschaftswoche Ende Oktober. Die Revolutionen und Innovationen der Tech-Branche seien an Deutschland vorbeigegangen – keine Computer, keine Smartphones, kein Internet, kein Cloud Computing und bald auch weder Machine Learning noch Künstliche Intelligenz. Das Land sei schwach in Sachen Software, habe nicht genügend Investoren für innovative Geschäftsmodelle und zehre immer noch von den Errungenschaften des 19. Jahrhunderts. Ein Klagegesang in D-Moll.
Die Innovationsfähigkeit der Wirtschaft
Es ist leider so: Die deutsche Digitalwirtschaft und Softwarebranche sind unterentwickelt. Doch Tech-Branchen wie Maschinenbau, Automatisierungstechnik und Automobilindustrie sind immer noch weltweit führend. Nicht umsonst hat E-Auto-Visionär Elon Musk den Produktionstechnik-Spezialisten Grohmann aus der Eifel einfach aufgekauft, um sich das Wissen und die Erfahrung der Mitarbeiter für seine Giga-Factories zu sichern – von denen eine in Deutschland gebaut werden soll. Dieses uneinheitliche Bild zeigt sich auch wieder beim seit 2007 fortlaufend ermittelten “Global Innovation Index (GII)” der „World Intellectual Property Organization (WIPO)“ der UN. Er sieht Deutschland auf dem 9. Rang. Es war allerdings auch schon mal auf Rang 13 (2013) und sogar auf Rang zwei (2007).
[toggle title=“Einige Ergebnisse des GII im Detail“]
Mit diesem Index wird die Wettbewerbsfähigkeit von 144 Nationen gemessen und zwar anhand von mehr als 80 Kriterien, darunter die Gründungsaktivitäten, Ausgaben für Bildung und Forschung und vieles mehr. Dabei wird zwischen Input-Kriterien (etwa Bildungssystem oder Dienstleistungssektor) und Output-Kriterien (Marktkapitalisierung, verfügbare Investments oder wissenschaftliche Veröffentlichungen) unterschieden. Bei einigen entscheidenden Indikatoren liegt die deutsche Wirtschaft bereits seit Jahren in der zweiten Hälfte der Liste.
So sind wir beim Gründen (Indikator “New businesses/th pop. 15–64”) auf Rang 64, es wird nach wie vor nicht ausreichend investiert (Indikator “Gross capital formation, % GDP”, Rang 91) und auch das Dauerproblem der schwierigen Unternehmensgründung ist noch da (Indikator ”Ease of starting a business”, Rang 88). Und traditionell liegt unser Land bei den Ausgaben für Bildung ebenfalls nicht vorn, nämlich auf Rang 55 (Expenditure on education, % GDP). Positiv dagegen: Rang 8 bei der Forschung (Indikator „Gross expenditure on R&D, % GDP“) und Rang 6 bei der Indikatorengruppe „Knowledge Creation“. Die Indikatoren zeigen außerdem , dass Deutschland auch als Standort für die Hightech-Herstellung (Indikator „High- & medium-high-tech manufactures, %“) mit Rang 6 ganz gut dasteht.
Die letzten zehn Jahre sind bei Deutschland von wechselnden Positionen im Mittelfeld gekennzeichnet, jedenfalls gemessen am deutschen Selbstbild. Dass dies nicht mehr so ganz realistisch ist, merken viele Leute beim Überschreiten der holländischen Grenze. Das kleine Land hat sich längst aus dem Zeitalter der Wassertomate verabschiedet und stärkere Anstrengungen In Sachen Digitalisierung unternommen – wie auch Großbritannien. Entsprechend sind beide Länder seit einigen Jahren auf Spitzenplätze abonniert.
Interessant auch der dauerhafte erste Platz für die Schweiz und das sehr gute Abschneiden der Schweden. Auch den USA sind immer gute oder sehr gute Plätze sicher. Ein deutlicher Absteiger im letzten Jahrzehnt war Hongkong, das traditionell auf Augenhöhe mit den westlichen Industriestaaten agierte. Dies ist sicher im Zusammenhang mit dem Aufstieg von Mainland China zu sehen – die chinesische Regierung zieht vermutlich Innovationskapazität aus Hongkong ab und stärkt andere Metropolen – deutlich sichtbar am Aufstieg in die Top 25.
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„Länder wie Dänemark, Finnland, Großbritannien oder die Niederlande machen deutlich mehr aus ihren Möglichkeiten“, urteilt der Innovationsberater Jürgen Stäudtner. „Vor allem beim Innovations-Output fallen wir gegen diese Länder zurück.“ Stäudtner hat kürzlich eine erweiterte Auflage seines Buchs „Deutschland im Innovationsstau“ herausgebracht. Eine Kernaussage des Autoren: Die deutschen Unternehmen sind nicht innovativ genug. „Deutsche Manager verstehen zu selten, dass Innovation die finanziell erfolgreichste Strategie ist und widmen sich lieber Sparplänen.“ Investitionen in Neues seien den deutschen Unternehmen nicht wichtig. „Wir zehren lieber von der Vergangenheit“, sagt Stäudtner.
Auf die Frage, wie deutsche Unternehmen innovativer werden können, findet Stäudtner folgende Antwort: Indem die Menschen ideenreicher, kreativer und offener für neue Gedanken werden. Jedes Unternehmen braucht deshalb Mitarbeiter, die Regeln brechen, Kunden wirklich verstehen, mit Leidenschaft ihre Ideen vertreten, mit Augenmaß ihre Chancen nutzen, auch in schwierigen Situationen dranbleiben und Moonshot-Projekte beherrschen. Er plädiert für Innovationsinitiativen und Unternehmensgründungen, um ein Thema neu zu denken und zu gestalten. Seine Erkenntnis: „Die deutsche Gesellschaft legt Innovatoren Steine in den Weg. Jeder einzelne ist aufgerufen, dies zu ändern.“
Zur Lage der Innovation in Deutschland
„Das haben wir immer schon so gemacht. Das haben wir noch nie so gemacht. Das hat schon beim letzten Mal nicht funktioniert. Das wollen unsere Kunden nicht. Das können unsere Mitarbeiter nicht.“ Diese Killerphrasen hört jeder, der in einem deutschen Unternehmen etwas Ungewöhnliches vorschlägt. Trotzdem behauptet gefühlt jedes Unternehmen, besonders innovativ zu sein oder zumindest bald zu werden. Gibt es eigentlich noch ein größeres Unternehmen ohne Innovation Lab? Gemessen an der Anzahl solcher und ähnlicher Initiativen müsste die deutsche Wirtschaft Innovationsweltmeister sein.
Da ist Skepsis angebracht, meinen die Autoren der Studie „Innovative Milieus in Deutschland 2019“ von IW Consult im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung, für die rund 1.000 Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen befragt wurden. Sie kritisieren: „Deutsche Unternehmen bewegen sich zu häufig auf ausgetretenen Pfaden. Einer relativ kleinen Speerspitze von innovativen Unternehmen steht hierzulande eine Mehrzahl von innovationsfernen Firmen gegenüber.“ Nur rund ein Viertel der deutschen Unternehmen zeichnet sich laut der Studie durch Innovationsfreude und Technologieführerschaft aus. Und in etwa der Hälfte der hiesigen Firmen werden Innovationen nicht aktiv vorangetrieben. Das Urteil der Studienautoren: „Hier fehlen vor allem Risikobereitschaft und eine Innovationskultur, die Mitarbeiter ermutigt, neue Wege zu gehen.“
Die Analyse zeigt, dass die deutsche Wirtschaft vor großen Herausforderungen steht. Zwar ist der Mittelstand mit (inkrementellen) Produkt- und Prozess-Innovationen erfolgreich, doch in den Innovationsbereichen mit hohem Potenzial für Disruption gibt es Defizite. Der Grund liegt in der Verteilung der innovativen Milieus in der deutschen Wirtschaft: Weniger als die Hälfte der Unternehmen gehört zu einem Milieu, in dem das Austesten und Überwinden von Grenzen großgeschrieben wird. Die Verteilung lässt sich in einem „Blasendiagramm“ recht eindrücklich darstellen:
[toggle title=“Gesellschaftliche Milieus in Deutschland“]
Die Studie von IW Consult basiert auf einem Ansatz der Soziologie, der soziale Milieus untersucht. Traditionell wurden in der Soziologie Gesellschaften nach dem Schichtenmodell beurteilt. Doch in der Realität zeigte sich, dass dieser zu grobschlächtig ist. So gibt es in den einzelnen Schichten ganz unterschiedliche Lebensstile und Lebenswelten – getrennte Milieus. Sie sind definiert als Gruppen Gleichgesinnter mit ähnlichen Grundwerten und ähnlicher Lebensführung. Sie besitzen eine erhöhte Binnenkommunikation und grenzen sich gegenüber anderen Gruppen ab.
Die bekannteste Einteilung von Milieus in der empirischen Sozialforschung sind die sogenannten Sinus-Milieus, die auf eine für 40 Länder erhobene Zielgruppen-Typologie des Markt- und Sozialforschungsunternehmens Sinus-Institut zurückgeht. Im Rahmen der Innovationsstudie sind vor allem die Sinus-Milieus für Deutschland wichtig. Die Merkmale und Verteilung dieser Milieus wird regelmäßig über qualitative Interviews ermittelt, bei denen Personen aus unterschiedlichen soziodemographischen Segmenten der Gesellschaft befragt werden. Anschließend erfolgt die quantitative Überprüfung mittels empirischer Sozialforschung. Insgesamt geht Sinus dabei iterativ vor: Die Abfolge von qualitativen und quantitativen Analysen wird so lange wiederholt, bis sich das theoretische Modell statistisch signifikant nachweisen lässt.
Die Einteilung in Milieus erfolgt in zwei Dimensionen: Erstens die soziale Lage, also die Schichtzugehörigkeit und zweitens die ethisch-gesellschaftliche Grundorientierung. Hierbei sind die Merkmale Tradition, Modernisierung, Individualisierung und Neuorientierung wichtig. Für die Einteilung in Milieus werden Neben soziodemographische Daten (Alter, Bildung oder Einkommen) auch Wertorientierungen und Alltagseinstellungen abgefragt, beispielsweise zu Arbeit, Familie, Freizeit, Konsum und Medien.
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[toggle title=“Innovative Milieus in der deutschen Wirtschaft“]
IW Consult hat den das Sinus-Milieumodell auf das Thema Innovation in Unternehmen übertragen. Auch hierbei werden die einzelnen Unternehmen anhand von Werten und Handlungen in verschiedene Milieus eingeteilt. Genauer: Ein innovatives Milieu ist eine branchen- und größenunabhängig definierte Gruppe von Unternehmen, die sich unterscheiden – und zwar an Hand ihres Innovationserfolgs sowie ihres Innovationsprofils.
Der Innovationserfolg der Unternehmen ergibt sich aus der Anzahl der unterschiedlichen Neuerungen in den Bereichen Produkte, Prozesse, Organisation und Marketing. Erstaunlicherweise fehlt hier das Kriterium Geschäftsmodelle, denn vor allem die Unternehmen aus der Digitalwirtschaft sind mit neuartigen Geschäftsmodellen erfolgreich geworden – beispielsweise durch digitalisierte zweiseitige Märkte und Plattformen. Das Fehlen von Geschäftsmodellinnovationen als Dimension kann zu Verzerrungen in den Ergebnissen führen. Denn deutsche Industrieunternehmen experimentieren durchaus mit neuartigen Geschäftsmodellen wie „Druckluft as a Service“.
Das Innovationsprofil eines Unternehmens basiert auf sechs Dimensionen: Innovationsorganisation, -kompetenz, -kultur, interne und externe Vernetzung sowie die Wettbewerbsposition. Die Marktforscher haben mit einer vergleichbaren Methodik wie das Sinus-Institut insgesamt sieben unterschiedliche Milieus identifiziert:
- Technologieführer verschieben die technologischen Grenzen regelmäßig weiter nach außen – durch Forschung, Entwicklung und Patente.
- Disruptive Innovatoren besitzen eine große Offenheit für Neues, hohe Risikobereitschaft und eine kooperative Unternehmenskultur, die vollständig auf Innovation ausgerichtet.
- Konservative Innovatoren sind sehr stark in Forschung und Entwicklung und melden viele Patente an, die Unternehmenskultur ist jedoch nicht ganzheitlich auf Innovation ausgerichtet.
- Kooperative Innovatoren besitzen eine kooperative Unternehmenskultur, die stark auf interne Vernetzung ausgerichtet ist. Innovation entsteht hier durch interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Belegschaft.
- Zufällige Innovatoren haben weder eine klare Innovationsstrategie noch eine Innovationsorganisation. Innovationen sind hier eher glückliche Zufallstreffer.
- Passive Umsetzer sind nicht aus eigenem Antrieb innovativ, sondern reagieren lediglich auf Anregungen ihrer Kunden zur Verbesserung ihrer Produkte und Services.
- Unternehmen ohne Innovationsfokus betrachten Innovation nicht als wettbewerbsrelevant.
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Das Milieu der Disruptoren – wie im Silicon Valley?
Auf den ersten Blick sehen die Ergebnisse deutlich weniger schlecht aus, als es in vielen Medienberichten über die Innovationsfeindlichkeit in Wirtschaft und Gesellschaft scheint. Immerhin ist ein gutes Fünftel der Unternehmen hoch innovativ (Innovationserfolg: Leader). Doch ein Blick auf die drei Blasen oben rechts in der Abbildung von IW Consult zeigt, dass die Masse der überhaupt innovativen Unternehmen nur mittelerfolgreich sind.
Ein genauer Blick in die Ergebnisse zeigt darüber hinaus, dass ein großer Teil der hochinnovativen Unternehmen aus klassischen Branchen kommen. So stammen Technologieführer und konservative Innovatoren hauptsächlich aus Chemie, Pharma, Metall und Elektro – oft Großunternehmen. Kooperative Innovation gehören ebenfalls zum Kernbereich der deutschen Wirtschaft. Hier finden sich zahlreiche Organisationen, die unternehmensnahe Dienstleistungen im Angebot haben. Startups der Digitalwirtschaft finden sich zusammen mit anderen IT- und Tech-Unternehmen unter den disruptiven Innovatoren.
„Mit einem Fünftel kommt mir die Zahl der disruptiven Unternehmen in Deutschland ungewöhnlich hoch vor“, wundert sich Innovationsberater Jürgen Stäudtner. Er vermutet, dass dieses Ergebnis die Folge eines sehr breiten Verständnisses von Disruption ist. Clayton M. Christensen, der Theoretiker der technologischen Disruption, beklagt in diesem Interview, dass der Begriff häufig viel zu schwammig genutzt wird. Er macht klar:
Disruption beschreibt einen Prozess, bei dem ein kleines Unternehmen oft mit geringen Ressourcen ein erfolgreiches etabliertes Geschäft herausfordert. […] [Es bietet] einfachere Produkte meist zu einem geringeren Preis an. […] Es gibt aber auch disruptive Firmen, die neue Märkte schaffen, die bisher nicht existiert haben.
Christensen betont, dass nicht jede Neuerung disruptiv ist. Die meisten Innovationen verbessern entweder die Effizienz des Unternehmens oder ein bestimmtes Produkt. Aus seiner Sicht arbeitet die disruptive Innovation anders:
Sie transformiert ein Produkt, das bisher sehr kompliziert und teuer war und macht es einfacher und billiger, so dass es sich mehr und neue Kunden leisten können. Nur diese Form von Innovation führt zu echtem Wachstum. In Deutschland sehe ich da aber bisher kaum etwas.
Disruptive Innovation, staatlich geprüft?
Das soll sich in Zukunft ändern und der Staat will hier ähnlich wie bei der Unternehmensfinanzierung eine starke und aktive Rolle spielen, mit der Agentur für Sprunginnovation. Sie ist im Herbst 2019 in Leipzig gegründet worden. Bisher ist allerdings außer einigen Interviews (etwa im Deutschlandfunk, bei Spiegel Online oder mit der Technology Review) des Gründungsdirektors Rafael Laguna de la Vera noch nicht viel geschehen – kurz vor Weihnachten exisitierte noch nicht einmal eine Website.
Der Name der Agentur enthält einen Neologismus, eine deutsche Version des Begriffes „disruptive Innovation“. De la Vera: „Eine Sprunginnovation ist eine, die unser Leben verändert, wo die Welt danach nicht mehr so ist, wie die Welt vorher war.“ Als Beispiel nennt er Auto, Penicillin, Internet und Smartphone. „Man kann sich nur noch schwer vorstellen, wie man eigentlich vor diesen Erfindungen gelebt hat.“ Aufgabe der Agentur ist es, solche radikalen Neuerungen zu entdecken, zu fördern und in marktreife Produkte umzuwandeln. Denn hier hat Deutschland Defizite.
Häufig genanntes Beispiel ist das Soundformat MP3: am Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen (IIS) in Erlangen erfunden, von ausländischen Unternehmen verwertet. Ähnlich ist es mit dem Lithium-Ionen-Akku. Die grundlegenden Prinzipien sind Mitte der 1970er Jahre an der TU München entwickelt worden, marktreife Produkte kamen Jahre später aus Japan. Die Agentur für Sprunginnovationen soll solche Entwicklungen vermeiden.
Doch kann das gelingen? Denn ganz offensichtlich mangelte es in den beiden geschilderten Fällen nicht an Erfindungsgeist. Es fehlte eher an der Fähigkeit, in der Erfindung das zukünftige Produkte, Geschäftsmodelle und Märkte zu erkennen. Denn erfinderisch sind viele Menschen, doch eine Erfindung ist noch lange keine Innovation, „die unser Leben verändert“.
Jenseits des Turbokapitalismus
Eine staatliche Agentur wird die Rahmenbedingungen kaum verändern, also weder den Mangel an Risikokapital beheben noch die Innovationsfreude in der Gesellschaft stärken. Deshalb sieht der Wirtschaftsjournalist Gunnar Sohn sehr viele offene Fragen. In einem Überblicksartikel für die Netzpiloten lässt er Skeptiker und vorsichtige Optimisten zu Wort kommen. Zusammengefasst empfehlen er und seine Gesprächspartner einen anderen Weg als den Turbokapitalismus im Stile des Silicon Valley.
Richtig, wir sind hier nicht im Silicon Valley (und auch nicht in Shenzhen). Eine Übertragung der dort gemachten Erfahrungen ist fast unmöglich, denn es gibt hier hierzulande weder die mentalen noch die gesellschaftlichen Voraussetzungen. Gefragt ist letztlich ein Weg zu disruptiven Innovationen, der die kulturellen, sozialen, ökonomischen und politischen Besonderheiten Deutschlands in Rechnung stellt. Das sagt sich einfacher, als es zu leisten ist. Rafael Laguna de la Vera wird hier noch manche Nuss zu knacken haben.
Denn unter anderem ist Deutschland auch das Land, das regelmäßig Zukunftsindustrien vor die Wand fährt. Vor zehn Jahren war es die Solarindustrie und im Moment die Windkraft, ein weiteres Opfer unsinniger Regulierungen. Ist man Verschwörungstheoretiker, wenn man hier den Einfluss von Lobbyisten vermutet? Das setzt sich auch in der EU fort, denn die neuen Einschränkungen von Assistenzsystemen in Autos sinf auffällig genau an den aktuellen Entwicklungsstand bei den europäischen OEMs angepasst.
Anders gefragt: Wollen die politischen und wirtschaftlichen Akteure in Deutschland überhaupt Innovationen, die zum Aufbau von neuen Industrien führen könnten – und zum Abbau der vorhandenen? Möchten sie nicht viel lieber so weitermachen wie bisher? Es gibt zu viele Hinweise, dass die Antwort „Ja“ lautet.
Bildquelle: wowinside / Adobe Stock