Die Bingobox verbreitet sich wie ein Virus. Kein Wunder, denn sie löst ein nerviges Alltagsproblem: Wer etwas einkaufen will, muss häufig Umwege in Kauf nehmen. Die Stadt wächst schneller als ihre Infrastruktur. Da ist ein Container mit einem automatischen Laden genau die richtige Lösung. Einfach hineingehen, dass Gesicht scannen lassen und dann einkaufen. Nudelpakete, Bambussprossen, vakuumiert verpacktes Geflügel – Kameras erfassen die Waren und rechnen sie über das Kundenkonto ab. Noch bequemer geht es nicht.
Nicht alle Probleme einer Megacity mit 80 Millionen Einwohnern sind so einfach zu lösen. Doch nach Jahren des Bauens ist es soweit: Man kann Peking falten. Es gibt nun drei Städte dieses Namens, jede wird regelmäßig in die Erde hinein- und später wieder herausgefaltet. Wenn ihre Zone weggefaltet ist, schlafen die Bewohner dank eines speziell dafür entwickelten Medikaments. Werden sie herausgefaltet, haben sie ein paar Stunden Zeit, um ihren Alltagsgeschäften nachzugehen. Dreimal Peking, dreimal Lebensraum für Millionen, dreimal eine boomende Stadt.
Chinesische Lösungen für Chinas Probleme
Beide Szenarien spielen in Chinas Hauptstadt. Das Pekinger Startup Bingobox bietet bereits seit einigen Jahren automatische Läden an, die sich in China rasch verbreiten. Der Grund: Die Städte in China wachsen und werden dauernd umgebaut. Mit einer Bingobox ist eine Vor-Ort-Versorgung schneller erreicht als durch Bau und Einrichtung eines herkömmlichen Supermarkts. Ein kleines Team aus Servicekräften hilft notfalls per Video-Chat. So können ein paar Leute Dutzende Bingoboxen überwachen. Für das Unternehmen ist das effizient und wenn die Umsätze nicht stimmen, kommt ein Kranwagen und versetzt den Laden an eine andere Stelle.
Eine prosperierende Megamillionenstadt wie Peking (oder Shanghai, Shenzhen, Guangzhou und andere) erfordert ungewöhnliche Maßnahmen. Die SF-Autorin Hao Jingfang hat sich hier in ihrer Erzählung „Peking falten“ etwas Spezielles ausgedacht: Um den städtischen Raum möglichst effizient zu nutzen, gibt es drei Sektoren, die sich platzsparend drehen, in der Erde versenken und zusammenfalten lassen. Nach einem strengen Plan wird immer nur ein Sektor entfaltet, damit die Menschen darin ihren Tätigkeiten nachgehen können.
Regierungsfunktionäre, wichtige Unternehmer und andere bewährte Bürger leben in Zone Eins, die für einen ganzen, 24-stündigen Tag herausgefaltet wird. Da zu dieser Gruppe nur fünf Millionen Personen gehören, haben sie mehr Raum zum Wohnen, Arbeiten und Erholen zur Verfügung. Die 25 Millionen Bürger der Mittelschicht leben in Zone Zwei, die 16 Stunden aktiv ist und Zone Drei – nun, das ist die Zone für die Unterschicht. Diesen 50 Millionen Einwohnern macht es ohnehin nichts aus, die meiste Zeit ihrer acht verfügbaren Stunden im Dunkeln zu verbringen.
Vor diesem Hintergrund entfaltet Hao eine Noir-Story: Der Müllarbeiter Lao Dao unternimmt einen abenteuerlichen Botengang von der dritten in die erste Zone – was eigentlich verboten ist, denn die Bewohner dürfen ihre Zone nicht verlassen. Die Story ist eine Dystopie, mit Kritik an patriarchalisch-autokratischen Politikansätzen, die eine Spezialität des chinesischen Staates sind. Doch die Geschichte erhebt sich nicht über ihren Protagonisten. Sie folgt ihm auf seinem Weg durch die Sektoren, weiß aber nicht mehr, als seine Perspektive zulässt. Die Ungleichheit des dreifachen Pekings wird gezeigt, aber nicht wie in einem politischen Pamphlet beklagt.
Genau das macht die Eleganz der Story aus und genau das hat sie preiswürdig gemacht, so dass sie als zweite chinesische Autorin 2016 mit dem renommierten Hugo-Award für die beste Science-Fiction-Erzählung ausgezeichnet wurde. Im Jahr davor erhielt ihr Kollege Liu Cixin den Hugo-Award für den besten Roman. Ausgezeichnet wurde der erste Band seiner Trisolaris-Trilogie „Die drei Sonnen“ , der im chinesischen Original bereits 2007 erschienen ist. Seit dem Frühjahr ist die Trilogie auch vollständig auf Deutsch erhältlich.
Die Breite (und Größe) chinesischer SF
Hao Jingfang und Liu Cixin zeigen die Bandbreite der modernen Science-Fiction in China. Die Autorin ist zwar Physikerin und Betriebswirtin, interessiert sich aber wenig für technisch ausgerichtete Hardcore-SF. In ihrer Erzählung, aber auch in ihrem Roman „Wandernde Himmel“ stehen Motive, Handlungen und Erfahrungen ihrer Hauptfiguren im Vordergrund. Sie setzt sie Situationen aus, zu deren Bewältigung Aufmerksamkeit, Neugier und Offenheit für andere Denkweisen notwendig ist. So ist im Roman eine Jugendliche vom Mars die Hauptfigur, die als Botschafterin des guten Willens in ein irdisches College geschickt wird und nach einigen Jahren wieder zum Mars zurückkehrt. Ihre Erfahrungen erlauben ihr, die Perspektive der in eine politische Krise verwickelten Planeten Erde und Mars zu übersteigen und eine Lösung zu finden.
Liu Cixin ist von einer anderen Art. Am besten lässt es sich durch eine vossianische Antonomasie ausdrücken: Er ist der Isaac Asimov Chinas. Seine Weltentwürfe sind aufregend, kurzweilig, stark an der amerikanischen Pop-Kultur und deren Filmsprache geschult. (Nebenbei bemerkt: Chinesen kennen sich deutlich besser mit der westlichen Kultur aus als Westler mit der chinesischen.) Seine Trilogie beginnt mit den Exzessen der Kulturrevolution und endet mit dem Tod des Universums. Trotz des enormen Umfangs von (in der deutschen Übersetzung) rund 2.400 Seiten ist es kaum möglich, die Bücher aus der Hand zu legen – vom erschöpften Absinken in einem Fluss ohne Ufer kann keine Rede sein.
Der gigantische Weltentwurf von Liu trägt tatsächlich über diese lange Strecke. Das liegt an seinem enormen Ideenreichtum, seinen wissenschaftlich unterfütterten Überlegungen zu Technik und Gesellschaft und seiner erzählerischen Potenz. Das Werk von Liu erinnert an die weit ausgreifenden Erzählstränge älterer chinesischer Romane wie „Die Reise in den Westen“ von Wu Cheng-en oder „Die drei Reiche“ von Luo Guanzhong. Sie gehören zu den kanonisierten Klassikern der chinesischen Literatur und sind deshalb auch für heutige Autoren als Referenz verpflichtend – ähnlich wie Homer, Augustinus, Cervantes, Shakespeare oder die Bibel in der europäisch geprägten Literatur.
Das Universum als dunkler Wald
Es ist unmöglich, in wenigen Absätzen eine sinnvolle Zusammenfassung der Trilogie zu geben. Auf ganz oberflächlicher Ebene geht es um eine Auseinandersetzung zwischen Menschen und den außerirdischen Trisolariern. Sie sind über Radiowellen auf die Menschheit aufmerksam geworden. Ihre Reaktion: Sie senden eine Raumschiffflotte, um die Erde zu erobern und ihre unwirtliche Heimat zu verlassen. Auf einer tieferen Ebene geht es um die Auseinandersetzung zwischen Kulturen, die sich sehr fremd sind und sich in dieser Fremdheit weder verstehen, noch missverstehen, noch nicht-verstehen. Jede der beiden Kulturen macht sich ihr eigenes Bild vom jeweils anderen, doch es erweist sich immer wieder als falsch.
Das Trisolaris-Universum wird als dunkler Wald geschildert, voll mit Lebewesen, die nicht miteinander reden können, ja nicht einmal dürfen. Die schwachen und wenig bewehrten verstecken sich ängstlich in der Schwärze und geben keinen Laut von sich. Anderenfalls werden sie von gnadenlosen Raubtieren bemerkt und vernichtet. Doch auch diese dürfen keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, allzu rasch werden sie zur Beute von noch stärkeren Wesen. Darum ist es in unserer Galaxie so still. Darum gibt es so viele Planeten, von denen keine Signale zu hören sind. Darum ist es so gefährlich, einfach Radiowellen in die Gegend zu senden.
Eine optimistische Lösung der Drake-Gleichung würde bedeuten, dass wir bereits Kontakt mit Aliens haben oder sie uns zumindest beobachten. Es gibt einige Anhaltspunkte dafür, dass die Galaxie von Leben erfüllt ist, auch wenn es sich nur selten um intelligentes Leben handeln mag. So hat sich gezeigt, dass eine unglaublich große Zahl an Sonnen Planeten besitzt. So ist wenigstens ein Parameter der Drake-Gleichung mit einem hohen Wert belegt. Trotzdem ist es uns (jedenfalls bis jetzt) nicht gelungen, eine andere Zivilisation zu entdecken. Nach der Theorie vom dunklen Wald hat diese Ruhe nur zwei Erklärungen: Die außerirdischen Zivilisationen stellen sich tot, weil sie überleben wollen. Oder sie wurden bereits entdeckt und vernichtet.
Liu scheint eher an Möglichkeit Zwei zu denken. Sein Universum ist kalt und gefühllos; die Kälte der kosmischen Hintergrundstrahlung überträgt sich auf die Mentalität der Lebensformen. Zwischen ihnen gibt es keine Verständigung. Für die Vertreter der Superzivilisationen, die im dritten Band einen dimensionalen Zusammenbruch des Raums erzeugen und damit die gesamte Milchstraße vernichten, sind niedrigere Lebensformen so etwas wie Wanzen: Sie treten angewidert darauf. Was bleibt? Ein paar Menschen retten sich, reisen ans (räumliche und zeitliche) Ende des Universums und beobachten sein Verschwinden. Vielleicht eine tröstliche Botschaft: Das Individuum siegt, denn es bleibt bis zuletzt.
Der Mensch und sein Sozialraum: SF in China
Starke, eigenwillige, oft egoistisch agierende Menschen bringen die Geschichte in den drei Bänden voran. Auch in dem Roman „Die Siliziuminsel“ von Chen Qiufan ist der treibende Faktor die rebellische, unangepasste Individualität der drei Hauptfiguren. Da ist der Economic Hitman Scott Brandle, der nach langer Zeit im Westen auf die Siliziuminsel zurückgekehrte Chen Kaizong und die Wanderarbeiterin Mimi, die zu einem Software-Cyborg wird und den Aufstand der Müllmenschen anführt. Chen hat diese drei auf der Siliziuminsel abgekippt, zusammen mit einem Riesenhaufen Cyberschrott vom Exoskelett bis zum Hirnimplantat. Sein Buch schreibt die (von der chinesischen Regierung kürzlich unterbundene) Praxis der westlichen Länder fort, ihren Müll in China abzukippen. Er entwickelt wie Hao oder Liu keine positive, naive Vorstellung von der Zukunft, sondern eine Dystopie, die den Menschen enormes abverlangt.
In seinem Roman, aber auch allen anderen hier vorgestellten Geschichten kämpfen die Protagonisten den Kampf jedes Individuums: Die Auseinandersetzung mit ihrer Lage, ihren persönlichen Wünschen, ihren Absichten und Gefühlen, dem gesellschaftlichen Hintergrund, den Möglichkeiten, die ihnen dieser gibt und den Grenzen ihrer Bemühungen. Das Setting ist mal Cyberpunk, mal ein galaktischer Weltentwurf. Die Figuren sind Chinesen, häufig aber auch Westler. Die geschilderte Welt ist ein Hybrid aus Osten und Westen. So beschreibt Liu, wie Englisch und Mandarin verschmelzen – erst zu einer Lingua Franca, später dann zur Muttersprache der Menschheit. In dieser Zeit wandelt sich die menschliche Gesellschaft mehrfach und wird mal kriegerischer, mal friedlicher. Liu dekliniert hier die Möglichkeiten einer Mischkultur durch, die sich über einen ganzen Planeten erstreckt und von einer unvorstellbaren Gefahr bedroht wird.
Ein einfacher Rückschluss auf das moderne China verbietet sich, doch eines ist klar: Diese chinesischen SF-Autoren schildern Westen und Osten auf Augenhöhe. In ihren Geschichten drückt sich das Selbstbewusstsein der Chinesen aus. Mit Sicherheit verstehen sie sich als Menschen der Zukunft und nicht der Vergangenheit alteuropäischer Prägung. Ein weiteres Beispiel dafür ist ein aufsehenerregendes, maximal CGI-lastiges Scifi-Action-Mashup-Movie, das aber nicht aus Hollywood kommt, sondern aus China: Die wandernde Erde. Basierend auf einer Short-Story von Liu Cixin entwirft das chinesische Produktionsteam ein gigantisches Schlachtengemälde, bei dem gleich die ganze Erde bewegt wird. Und natürlich geben Chinesen die Richtung vor.
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