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Turbodigitalisierung – der virale Effekt

Für einen V-Verlauf sind wir noch ganz schön weit unten: Die Wirtschaftsweisen haben am 20. März in ihrem Sondergutachten für Deutschland einen tiefen Absturz mit vergleichsweise schneller Erholung prognostiziert. Das war zu optimistisch gedacht und ist bereits jetzt von der Wirklichkeit überholt.

Die stärkste Wirtschaftskrise seit 1929

Das Statistische Bundesamt ermittelte am 15. Mai einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 2,2 Prozent. Die Bundesregierung geht von 6,3 Prozent für das ganze Jahr 2020 aus. Kurz gesagt: Die Rezession ist da und sie ist beispiellos. Dieser starke Einbruch liegt unter anderem auch daran, dass die Corona-Krise sowohl die Angebots- als auch die Nachfrageseite betrifft.

Denn anders als in der Finanzkrise von 2008 bleiben die Verbraucher nicht unbeeindruckt, im Gegenteil. Außer bei Lebensmitteln und Unterhaltungsmedien haben die Verbraucher deutlich weniger konsumiert. Diese Kaufzurückhaltung wird uns noch lange erhalten bleiben. So mussten deutsche Autohersteller bereits wenige Wochen nach dem Neustart ihrer Produktion den Ausstoß wieder verringern, weil die Kunden ausbleiben.

Doch es ist zu einseitig, das Bild nur schwarz in schwarz zu malen. Die wirtschaftlichen Sektoren sind unterschiedlich betroffen. So wird in den nächsten Monaten die Zahl der Insolvenzen in einigen Branchen stark ansteigen, während andere weniger betroffen sind oder sogar von der Krise profitieren. Zu letzteren gehören vor allem die großen Plattformunternehmen, in erster Linie Amazon.

Digitale Vorreiter sind widerstandsfähiger

Eine genaue Analyse der Folgen der Corona-Krise in unterschiedlichen Branchen bringt das Trendbook Smarter Enterprise, dass ich zusammen mit dem digitalen Mastermind Bernhard Steimel geschrieben habe. Unsere These dabei: Je stärker ein Unternehmen digitalisiert ist, desto besser ist es mit der Krise klargekommen.

Das eindrücklichste Beispiel ist natürlich das Homeoffice. Viele Unternehmen haben sich bisher dagegen gewehrt. So verschenkten sie in der Corona-Krise wertvolle Zeit, bis alle Mitarbeiter in ihren Heimbüros wieder arbeitsfähig waren. Nur Unternehmen mit digitalen Arbeitsplätzen konnten ab Tag Eins ungebremst weiter arbeiten.

Viele weitere Beispiele finden sich in der Studie, aber auch in einem Gespräch zwischen Bernhard Steimel, dem Wirtschaftsjournalisten Gunnar Sohn und weiteren Digitalexperten. Auch hier die einhellige Meinung: Digitale Vorreiter sind widerstandsfähiger. Deutsche Firmen sollten davon lernen, gerade jetzt, während des Neustart der Wirtschaft.

Die Krise als Turbo der Digitalisierung

Es gibt eine ganze Reihe an Unternehmen, die in der Krise geschickt agiert haben. Ein Kosmetikunternehmen setzte das Personal der geschlossenen Filialen als Berater im Online-Verkauf über Social-Apps wie WeChat ein. Eine Restaurantkette entwickelte Halbfertig-Gerichte, die das Kochen zu Hause erleichtern. Ein Lebensmittelhersteller sah das Hamstern voraus und verlagerte seinen Vertriebsschwerpunkt auf E-Commerce.

Die Unternehmen waren dadurch in der Lage, wenigstens einen Teil ihrer Umsätze zu halten und nach dem Neustart der Wirtschaft zu wachsen. Diese Beispiele haben allerdings einen Haken: Sie stammen aus China. Weit fortgeschrittene Digitalisierung und eine agile Arbeitsweise erlaubten rasche Krisenreaktion bereits im Januar. Deutsche Unternehmen dagegen mussten häufig erst die technischen Voraussetzungen für Webshops oder Videomeetings schaffen.

So macht Corona schmerzhaft auf viele Digitalisierungslücken in der deutschen Wirtschaft aufmerksam und wirkt gleichzeitig als Digitalisierungsturbo. Einige Lücken sind jetzt im Eiltempo geschlossen worden, andere erfordern hohe Investitionen in digitale und nachhaltige Technologien – um Innovationen zu schaffen.

Das alternative Ende: Die neue Normalität ist die alte

Unser Trendbook hat einige grimmige Nachrichten für die deutsche Wirtschaft. Wir sind aber optimistisch gestimmt und gehen davon aus, dass Wirtschaft und Politik in Deutschland verstanden haben. notwendig sind jetzt mehr Digitalisierung, neuartige (agile) Arbeitsweisen und viel Innovation.

Für bewegliche Unternehmen ist das meist kein Problem. Die im Vergleich zur Bay Area eher kleine, aber fix agierende Startup-Szene in Deutschland zeigt es. Auch auf den ersten Blick traditionell wirkende Mittelständler reagierten fix, beispielsweise Trigema als ein Vorreiter bei der Produktion von Stoffmasken.

Doch gerade einige Unternehmen aus deutschen Kernbranchen scheinen bei diesen Lektionen geschlafen zu haben: Sie kappen Investitionen, kürzen Forschungsausgaben und stoppen Innovationsprojekte, wie der Plattformexperte Holger Schmidt in einem Artikel in der Zeit kritisiert. Die große Gefahr ist, dass die Unternehmen wieder in ihre alten, abwehrenden Reflexe verfallen und die üblichen Verdächtigen aus der GAFA-Ecke die einzige Gewinner der Krise sind.

Bildquelle: Iscatel / Adobe Stock

Innovation in D-Moll op. 2019

Wenn ein Porträt Deutschlands mit dem Versailler Vertrag beginnt, kann es sich eigentlich nur um einen Abgesang handeln. Und so liest sich der Artikel aus der Business Week vom April 2019: „Deutschland wirkt, als würde es in den letzten Tagen einer Ära leben; da ist diese Atmosphäre des bevorstehenden Wandels, für den niemand bereit zu sein scheint. Das Land bleibt zwar reich und politisch stabil, aber es ist schwer, sich dem Eindruck zu entziehen, dass die Deutschen selbstgefällig auf die Bedrohung ihres Wohlstands reagieren.“

Darauf folgen ein paar Stichworte, die uns auch von den eigenen Medien regelmäßig um die Ohren gehauen werden: Kanzlerinnendämmerung, Ende des Verbrennungsmotors, sklerotischer Bankensektor, Gegenwind durch globale Handelskriege, alarmierend geringes Wachstum. Doch die Business Week sieht neben viel Schatten auch ein wenig Licht: „Die Menge an kleinen und mittelgroßen Unternehmen, aus denen sich der mächtige deutsche Mittelstand zusammensetzt, bleiben innovativ und hochspezialisiert in ihren Premium-Nischen. Deutschland liegt bei der Automatisierung auf dem dritten Platz weltweit. Der Wechsel zu sauberem Strom hat es zu einem globalen Zentrum für erneuerbare Energien gemacht.“

Aus der Außensicht wirkt die Situation der hiesigen Wirtschaft durchwachsen. Doch wenigstens in Apokalyptik wollen die Deutschen Weltmeister sein. „Technologisch fast abgehängt: Deutschlands Wohlstand in ernster Gefahr“, titelte die Wirtschaftswoche Ende Oktober. Die Revolutionen und Innovationen der Tech-Branche seien an Deutschland vorbeigegangen – keine Computer, keine Smartphones, kein Internet, kein Cloud Computing und bald auch weder Machine Learning noch Künstliche Intelligenz. Das Land sei schwach in Sachen Software, habe nicht genügend Investoren für innovative Geschäftsmodelle und zehre immer noch von den Errungenschaften des 19. Jahrhunderts. Ein Klagegesang in D-Moll.

Die Innovationsfähigkeit der Wirtschaft

Es ist leider so: Die deutsche Digitalwirtschaft und Softwarebranche sind unterentwickelt. Doch Tech-Branchen wie Maschinenbau, Automatisierungstechnik und Automobilindustrie sind immer noch weltweit führend. Nicht umsonst hat E-Auto-Visionär Elon Musk den Produktionstechnik-Spezialisten Grohmann aus der Eifel einfach aufgekauft, um sich das Wissen und die Erfahrung der Mitarbeiter für seine Giga-Factories zu sichern – von denen eine in Deutschland gebaut werden soll. Dieses uneinheitliche Bild zeigt sich auch wieder beim seit 2007 fortlaufend ermittelten “Global Innovation Index (GII)” der „World Intellectual Property Organization (WIPO)“ der UN. Er sieht Deutschland auf dem 9. Rang. Es war allerdings auch schon mal auf Rang 13 (2013) und sogar auf Rang zwei (2007).

[toggle title=“Einige Ergebnisse des GII im Detail“]

Mit diesem Index wird die Wettbewerbsfähigkeit von 144 Nationen gemessen und zwar anhand von mehr als 80 Kriterien, darunter die Gründungsaktivitäten, Ausgaben für Bildung und Forschung und vieles mehr. Dabei wird zwischen Input-Kriterien (etwa Bildungssystem oder Dienstleistungssektor) und Output-Kriterien (Marktkapitalisierung, verfügbare Investments oder wissenschaftliche Veröffentlichungen) unterschieden. Bei einigen entscheidenden Indikatoren liegt die deutsche Wirtschaft bereits seit Jahren in der zweiten Hälfte der Liste.

So sind wir beim Gründen (Indikator “New businesses/th pop. 15–64”) auf Rang 64, es wird nach wie vor nicht ausreichend investiert (Indikator “Gross capital formation, % GDP”, Rang 91) und auch das Dauerproblem der schwierigen Unternehmensgründung ist noch da (Indikator ”Ease of starting a business”, Rang 88). Und traditionell liegt unser Land bei den Ausgaben für Bildung ebenfalls nicht vorn, nämlich auf Rang 55 (Expenditure on education, % GDP). Positiv dagegen: Rang 8 bei der Forschung (Indikator „Gross expenditure on R&D, % GDP“) und Rang 6 bei der Indikatorengruppe „Knowledge Creation“. Die Indikatoren zeigen außerdem , dass Deutschland auch als Standort für die Hightech-Herstellung (Indikator „High- & medium-high-tech manufactures, %“) mit Rang 6 ganz gut dasteht.

Top 25 der innovativen Staaaten im Jahresvergleich

Die letzten zehn Jahre sind bei Deutschland von wechselnden Positionen im Mittelfeld gekennzeichnet, jedenfalls gemessen am deutschen Selbstbild. Dass dies nicht mehr so ganz realistisch ist, merken viele Leute beim Überschreiten der holländischen Grenze. Das kleine Land hat sich längst aus dem Zeitalter der Wassertomate verabschiedet und stärkere Anstrengungen In Sachen Digitalisierung unternommen – wie auch Großbritannien. Entsprechend sind beide Länder seit einigen Jahren auf Spitzenplätze abonniert.

Interessant auch der dauerhafte erste Platz für die Schweiz und das sehr gute Abschneiden der Schweden. Auch den USA sind immer gute oder sehr gute Plätze sicher. Ein deutlicher Absteiger im letzten Jahrzehnt war Hongkong, das traditionell auf Augenhöhe mit den westlichen Industriestaaten agierte. Dies ist sicher im Zusammenhang mit dem Aufstieg von Mainland China zu sehen – die chinesische Regierung zieht vermutlich Innovationskapazität aus Hongkong ab und stärkt andere Metropolen – deutlich sichtbar am Aufstieg in die Top 25.

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„Länder wie Dänemark, Finnland, Großbritannien oder die Niederlande machen deutlich mehr aus ihren Möglichkeiten“, urteilt der Innovationsberater Jürgen Stäudtner. „Vor allem beim Innovations-Output fallen wir gegen diese Länder zurück.“ Stäudtner hat kürzlich eine erweiterte Auflage seines Buchs „Deutschland im Innovationsstau“ herausgebracht. Eine Kernaussage des Autoren: Die deutschen Unternehmen sind nicht innovativ genug. „Deutsche Manager verstehen zu selten, dass Innovation die finanziell erfolgreichste Strategie ist und widmen sich lieber Sparplänen.“ Investitionen in Neues seien den deutschen Unternehmen nicht wichtig. „Wir zehren lieber von der Vergangenheit“, sagt Stäudtner.

Auf die Frage, wie deutsche Unternehmen innovativer werden können, findet Stäudtner folgende Antwort: Indem die Menschen ideenreicher, kreativer und offener für neue Gedanken werden. Jedes Unternehmen braucht deshalb Mitarbeiter, die Regeln brechen, Kunden wirklich verstehen, mit Leidenschaft ihre Ideen vertreten, mit Augenmaß ihre Chancen nutzen, auch in schwierigen Situationen dranbleiben und Moonshot-Projekte beherrschen. Er plädiert für Innovationsinitiativen und Unternehmensgründungen, um ein Thema neu zu denken und zu gestalten. Seine Erkenntnis: „Die deutsche Gesellschaft legt Innovatoren Steine in den Weg. Jeder einzelne ist aufgerufen, dies zu ändern.“

Zur Lage der Innovation in Deutschland

„Das haben wir immer schon so gemacht. Das haben wir noch nie so gemacht. Das hat schon beim letzten Mal nicht funktioniert. Das wollen unsere Kunden nicht. Das können unsere Mitarbeiter nicht.“ Diese Killerphrasen hört jeder, der in einem deutschen Unternehmen etwas Ungewöhnliches vorschlägt. Trotzdem behauptet gefühlt jedes Unternehmen, besonders innovativ zu sein oder zumindest bald zu werden. Gibt es eigentlich noch ein größeres Unternehmen ohne Innovation Lab? Gemessen an der Anzahl solcher und ähnlicher Initiativen müsste die deutsche Wirtschaft Innovationsweltmeister sein.

Da ist Skepsis angebracht, meinen die Autoren der Studie „Innovative Milieus in Deutschland 2019“ von IW Consult im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung, für die rund 1.000 Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen befragt wurden. Sie kritisieren: „Deutsche Unternehmen bewegen sich zu häufig auf ausgetretenen Pfaden. Einer relativ kleinen Speerspitze von innovativen Unternehmen steht hierzulande eine Mehrzahl von innovationsfernen Firmen gegenüber.“ Nur rund ein Viertel der deutschen Unternehmen zeichnet sich laut der Studie durch Innovationsfreude und Technologieführerschaft aus. Und in etwa der Hälfte der hiesigen Firmen werden Innovationen nicht aktiv vorangetrieben. Das Urteil der Studienautoren: „Hier fehlen vor allem Risikobereitschaft und eine Innovationskultur, die Mitarbeiter ermutigt, neue Wege zu gehen.“

Die Analyse zeigt, dass die deutsche Wirtschaft vor großen Herausforderungen steht. Zwar ist der Mittelstand mit (inkrementellen) Produkt- und Prozess-Innovationen erfolgreich, doch in den Innovationsbereichen mit hohem Potenzial für Disruption gibt es Defizite. Der Grund liegt in der Verteilung der innovativen Milieus in der deutschen Wirtschaft: Weniger als die Hälfte der Unternehmen gehört zu einem Milieu, in dem das Austesten und Überwinden von Grenzen großgeschrieben wird. Die Verteilung lässt sich in einem „Blasendiagramm“ recht eindrücklich darstellen:

Computergenerierter Alternativtext:
Innovative Milieus in Deutschland, 2019 - Anteil in Prozent aller Unternehmen 
hoch 
(Leader) 
mittel 
-w (Follower) 
gering 
(Adapter) 
Technologie- 
führer 
6% 
Konservativer 
Innovator 
4% 
Passiver 
Umsetzer 
19% 
Disruptiver 
Innovator 
19% 
åufälliger 
Innovator 
16% 
Unternehmen ohne 
Innovationsfokus 
11% 
ohne Innovationsfokus 
(Festhalten am 
Status Quo) 
unstrukturiert 
(Neues von 
anderen adaptieren) 
FuE 
(Weiter- 
entwicklung) 
Technologiefokus 
(Techn. Grenzen 
austesten) 
disruptiv 
(Grenzen 
überwinden) 
Kooperativer 
Innovator 
25% 
partizipativ 
(Innovation durch 
Kooperation) 
Innovationsprofil 
„bewahren" 
N- 1.002. | Quelle: IW Consult (2019); IW Zukunftspanel Welle 32 
Innovationsprofil 
„forschen / entwickeln / erneuern" 
, eigene Berechnungen, eigene Darstellung. 
Innovationsprofil 
„kooperieren / öffnen/ Neuland erschließen" 
BertelsmannStiftung
Die deutschen Innovationsmilieus

[toggle title=“Gesellschaftliche Milieus in Deutschland“]

Die Studie von IW Consult basiert auf einem Ansatz der Soziologie, der soziale Milieus untersucht. Traditionell wurden in der Soziologie Gesellschaften nach dem Schichtenmodell beurteilt. Doch in der Realität zeigte sich, dass dieser zu grobschlächtig ist. So gibt es in den einzelnen Schichten ganz unterschiedliche Lebensstile und Lebenswelten – getrennte Milieus. Sie sind definiert als Gruppen Gleichgesinnter mit ähnlichen Grundwerten und ähnlicher Lebensführung. Sie besitzen eine erhöhte Binnenkommunikation und grenzen sich gegenüber anderen Gruppen ab.

Die bekannteste Einteilung von Milieus in der empirischen Sozialforschung sind die sogenannten Sinus-Milieus, die auf eine für 40 Länder erhobene Zielgruppen-Typologie des Markt- und Sozialforschungsunternehmens Sinus-Institut zurückgeht. Im Rahmen der Innovationsstudie sind vor allem die Sinus-Milieus für Deutschland wichtig. Die Merkmale und Verteilung dieser Milieus wird regelmäßig über qualitative Interviews ermittelt, bei denen Personen aus unterschiedlichen soziodemographischen Segmenten der Gesellschaft befragt werden. Anschließend erfolgt die quantitative Überprüfung mittels empirischer Sozialforschung. Insgesamt geht Sinus dabei iterativ vor: Die Abfolge von qualitativen und quantitativen Analysen wird so lange wiederholt, bis sich das theoretische Modell statistisch signifikant nachweisen lässt.

Die Einteilung in Milieus erfolgt in zwei Dimensionen: Erstens die soziale Lage, also die Schichtzugehörigkeit und zweitens die ethisch-gesellschaftliche Grundorientierung. Hierbei sind die Merkmale Tradition, Modernisierung, Individualisierung und Neuorientierung wichtig. Für die Einteilung in Milieus werden Neben soziodemographische Daten (Alter, Bildung oder Einkommen) auch Wertorientierungen und Alltagseinstellungen abgefragt, beispielsweise zu Arbeit, Familie, Freizeit, Konsum und Medien.

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[toggle title=“Innovative Milieus in der deutschen Wirtschaft“]

IW Consult hat den das Sinus-Milieumodell auf das Thema Innovation in Unternehmen übertragen. Auch hierbei werden die einzelnen Unternehmen anhand von Werten und Handlungen in verschiedene Milieus eingeteilt. Genauer: Ein innovatives Milieu ist eine branchen- und größenunabhängig definierte Gruppe von Unternehmen, die sich unterscheiden – und zwar an Hand ihres Innovationserfolgs sowie ihres Innovationsprofils.

Der Innovationserfolg der Unternehmen ergibt sich aus der Anzahl der unterschiedlichen Neuerungen in den Bereichen Produkte, Prozesse, Organisation und Marketing. Erstaunlicherweise fehlt hier das Kriterium Geschäftsmodelle, denn vor allem die Unternehmen aus der Digitalwirtschaft sind mit neuartigen Geschäftsmodellen erfolgreich geworden – beispielsweise durch digitalisierte zweiseitige Märkte und Plattformen. Das Fehlen von Geschäftsmodellinnovationen als Dimension kann zu Verzerrungen in den Ergebnissen führen. Denn deutsche Industrieunternehmen experimentieren durchaus mit neuartigen Geschäftsmodellen wie „Druckluft as a Service“.

Das Innovationsprofil eines Unternehmens basiert auf sechs Dimensionen: Innovationsorganisation, -kompetenz, -kultur, interne und externe Vernetzung sowie die Wettbewerbsposition. Die Marktforscher haben mit einer vergleichbaren Methodik wie das Sinus-Institut insgesamt sieben unterschiedliche Milieus identifiziert:

  1. Technologieführer verschieben die technologischen Grenzen regelmäßig weiter nach außen – durch Forschung, Entwicklung und Patente.
  2. Disruptive Innovatoren besitzen eine große Offenheit für Neues, hohe Risikobereitschaft und eine kooperative Unternehmenskultur, die vollständig auf Innovation ausgerichtet.
  3. Konservative Innovatoren sind sehr stark in Forschung und Entwicklung und melden viele Patente an, die Unternehmenskultur ist jedoch nicht ganzheitlich auf Innovation ausgerichtet.
  4. Kooperative Innovatoren besitzen eine kooperative Unternehmenskultur, die stark auf interne Vernetzung ausgerichtet ist. Innovation entsteht hier durch interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Belegschaft.
  5. Zufällige Innovatoren haben weder eine klare Innovationsstrategie noch eine Innovationsorganisation. Innovationen sind hier eher glückliche Zufallstreffer.
  6. Passive Umsetzer sind nicht aus eigenem Antrieb innovativ, sondern reagieren lediglich auf Anregungen ihrer Kunden zur Verbesserung ihrer Produkte und Services.
  7. Unternehmen ohne Innovationsfokus betrachten Innovation nicht als wettbewerbsrelevant.

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Das Milieu der Disruptoren – wie im Silicon Valley?

Auf den ersten Blick sehen die Ergebnisse deutlich weniger schlecht aus, als es in vielen Medienberichten über die Innovationsfeindlichkeit in Wirtschaft und Gesellschaft scheint. Immerhin ist ein gutes Fünftel der Unternehmen hoch innovativ (Innovationserfolg: Leader). Doch ein Blick auf die drei Blasen oben rechts in der Abbildung von IW Consult zeigt, dass die Masse der überhaupt innovativen Unternehmen nur mittelerfolgreich sind.

Ein genauer Blick in die Ergebnisse zeigt darüber hinaus, dass ein großer Teil der hochinnovativen Unternehmen aus klassischen Branchen kommen. So stammen Technologieführer und konservative Innovatoren hauptsächlich aus Chemie, Pharma, Metall und Elektro – oft Großunternehmen. Kooperative Innovation gehören ebenfalls zum Kernbereich der deutschen Wirtschaft. Hier finden sich zahlreiche Organisationen, die unternehmensnahe Dienstleistungen im Angebot haben. Startups der Digitalwirtschaft finden sich zusammen mit anderen IT- und Tech-Unternehmen unter den disruptiven Innovatoren.

„Mit einem Fünftel kommt mir die Zahl der disruptiven Unternehmen in Deutschland ungewöhnlich hoch vor“, wundert sich Innovationsberater Jürgen Stäudtner. Er vermutet, dass dieses Ergebnis die Folge eines sehr breiten Verständnisses von Disruption ist. Clayton M. Christensen, der Theoretiker der technologischen Disruption, beklagt in diesem Interview, dass der Begriff häufig viel zu schwammig genutzt wird. Er macht klar:

Disruption beschreibt einen Prozess, bei dem ein kleines Unternehmen oft mit geringen Ressourcen ein erfolgreiches etabliertes Geschäft herausfordert. […] [Es bietet] einfachere Produkte meist zu einem geringeren Preis an. […] Es gibt aber auch disruptive Firmen, die neue Märkte schaffen, die bisher nicht existiert haben.

Christensen betont, dass nicht jede Neuerung disruptiv ist. Die meisten Innovationen verbessern entweder die Effizienz des Unternehmens oder ein bestimmtes Produkt. Aus seiner Sicht arbeitet die disruptive Innovation anders:

Sie transformiert ein Produkt, das bisher sehr kompliziert und teuer war und macht es einfacher und billiger, so dass es sich mehr und neue Kunden leisten können. Nur diese Form von Innovation führt zu echtem Wachstum. In Deutschland sehe ich da aber bisher kaum etwas.

Disruptive Innovation, staatlich geprüft?

Das soll sich in Zukunft ändern und der Staat will hier ähnlich wie bei der Unternehmensfinanzierung eine starke und aktive Rolle spielen, mit der Agentur für Sprunginnovation. Sie ist im Herbst 2019 in Leipzig gegründet worden. Bisher ist allerdings außer einigen Interviews (etwa im Deutschlandfunk, bei Spiegel Online oder mit der Technology Review) des Gründungsdirektors Rafael Laguna de la Vera noch nicht viel geschehen – kurz vor Weihnachten exisitierte noch nicht einmal eine Website.

Der Name der Agentur enthält einen Neologismus, eine deutsche Version des Begriffes „disruptive Innovation“. De la Vera: „Eine Sprunginnovation ist eine, die unser Leben verändert, wo die Welt danach nicht mehr so ist, wie die Welt vorher war.“ Als Beispiel nennt er Auto, Penicillin, Internet und Smartphone. „Man kann sich nur noch schwer vorstellen, wie man eigentlich vor diesen Erfindungen gelebt hat.“ Aufgabe der Agentur ist es, solche radikalen Neuerungen zu entdecken, zu fördern und in marktreife Produkte umzuwandeln. Denn hier hat Deutschland Defizite.

Häufig genanntes Beispiel ist das Soundformat MP3: am Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen (IIS) in Erlangen erfunden, von ausländischen Unternehmen verwertet. Ähnlich ist es mit dem Lithium-Ionen-Akku. Die grundlegenden Prinzipien sind Mitte der 1970er Jahre an der TU München entwickelt worden, marktreife Produkte kamen Jahre später aus Japan. Die Agentur für Sprunginnovationen soll solche Entwicklungen vermeiden.

Doch kann das gelingen?  Denn ganz offensichtlich mangelte es in den beiden geschilderten Fällen nicht an Erfindungsgeist. Es fehlte eher an der Fähigkeit, in der Erfindung das zukünftige Produkte, Geschäftsmodelle und Märkte zu erkennen. Denn erfinderisch sind viele Menschen, doch eine Erfindung ist noch lange keine Innovation, „die unser Leben verändert“.

Jenseits des Turbokapitalismus

Eine staatliche Agentur wird die Rahmenbedingungen kaum verändern, also weder den Mangel an Risikokapital beheben noch die Innovationsfreude in der Gesellschaft stärken. Deshalb sieht der Wirtschaftsjournalist Gunnar Sohn sehr viele offene Fragen. In einem Überblicksartikel für die Netzpiloten lässt er Skeptiker und vorsichtige Optimisten zu Wort kommen. Zusammengefasst empfehlen er und seine Gesprächspartner einen anderen Weg als den Turbokapitalismus im Stile des Silicon Valley.

Richtig, wir sind hier nicht im Silicon Valley (und auch nicht in Shenzhen). Eine Übertragung der dort gemachten Erfahrungen ist fast unmöglich, denn es gibt hier hierzulande weder die mentalen noch die gesellschaftlichen Voraussetzungen. Gefragt ist letztlich ein Weg zu disruptiven Innovationen, der die kulturellen, sozialen, ökonomischen und politischen Besonderheiten Deutschlands in Rechnung stellt. Das sagt sich einfacher, als es zu leisten ist. Rafael Laguna de la Vera wird hier noch manche Nuss zu knacken haben.

Denn unter anderem ist Deutschland auch das Land, das regelmäßig Zukunftsindustrien vor die Wand fährt. Vor zehn Jahren war es die Solarindustrie und im Moment die Windkraft, ein weiteres Opfer unsinniger Regulierungen. Ist man Verschwörungstheoretiker, wenn man hier den Einfluss von Lobbyisten vermutet? Das setzt sich auch in der EU fort, denn die neuen Einschränkungen von Assistenzsystemen in Autos sinf auffällig genau an den aktuellen Entwicklungsstand bei den europäischen OEMs angepasst.

Anders gefragt: Wollen die politischen und wirtschaftlichen Akteure in Deutschland überhaupt Innovationen, die zum Aufbau von neuen Industrien führen könnten – und zum Abbau der vorhandenen? Möchten sie nicht viel lieber so weitermachen wie bisher? Es gibt zu viele Hinweise, dass die Antwort „Ja“ lautet.

Bildquelle: wowinside / Adobe Stock

Die Gigafactory IV kommt

Der Chuck Norris der Tech-Branche hat zugeschlagen:

Was wirklich passiert ist: Elon Musk hat höchstpersönlich den Preis einer Autozeitung entgegengenommen, für das Model 3. In einem Nebensatz verkündete er, dass die Gigafactory 4 bei Berlin, auf der grünen Wiese in Brandenburg gebaut wird. Etwas später präzisierte Musk dann per Twitter: Dort werde unter anderen das Model Y gebaut und Ende 2021 soll es mit der Produktion losgehen. Von etlichen tausend Arbeitsplätzen war die Rede und tatsächlich sind bereits Stellenausschreibungen für Brandenburg auf der Tesla-Website zu sehen.

Eine Bauzeit von zwei Jahren ist recht optimistisch, schließlich sind wir hier nicht in China. Dort betrug die Bauzeit der Gigafactory 3  gut zehn Monate. Im Moment beginnt dort der Produktionstest für das Model 3 und möglichst schnell soll die Massenproduktion für den chinesischen Markt anlaufen. Doch Elon Musk wird sich der deutschen Eigenheiten bewusst sein. Darauf weist auch das milde Lächeln bei dem Satz hin, dass seine Fabrik ein wenig schneller als der Berliner Flughafen eröffnet werden müsse. Das mag so sein, wenn die Politik ihre Hausaufgaben gemacht hat. Es ist sicher sinnvoll, dass der nicht mit Industrieansiedlungen verwöhnte Flächenstaat Brandenburg ein möglichst rasches Genehmigungsverfahren für den Bau anstrebt.

Jenseits der Bedenkenträgerei

Eine Industrieansiedlung in dieser Größe, noch dazu im Einzugsbereich von etlichen Bundesländern mit hoher Arbeitslosigkeit, sollte eigentlich Grund für Euphorie sein. Doch eine typisch deutsche Reaktion kommt sofort: Zynismus. Das“Goldene Fass“ in diesem Genre gebührt dem Journalistenkollegen Stefan Laurin. Er verbreitete bereits wenige Stunden nach der Preisverleihung über Facebook eine dystopische Entwicklung, die er später noch ausmalte:

Vielleicht schon heute werden sich die ersten Bürgerinitiativen gegen den Bau gründen. Umweltverbände, die gegen die Fabrik klagen, werden sich ebenfalls finden. Irgendein Käfer, den heute noch niemand kennt und der für das Überleben von Grünheide und für Mutter Erde von existenzieller Bedeutung ist, wird sich schon finden. Und dann sind da noch das Klima, die Bodenversiegelung, die Lärmbelastung durch die Fabrik, die Belastungen bei ihrem Bau, die Gentrifizierung durch den Zuzug von Ingenieuren, die Ausbeutung der Tesla-Arbeiter, der Kapitalismus und irgendwas mit Frieden. […]

Musk weiß nicht, worauf er sich eingelassen hat: In fünf Jahren, wenn er vor einem Oberverwaltungsgericht um die Genehmigung des Baus der Abbiegespur kämpft, die dafür nötig ist, dass er die Zufahrtsstraße bauen darf, die zu dem bis dahin längst besetzten Grundstück führt, auf dem irgendwann seine Fabrik entstehen soll, wird er den gestrigen Tag verfluchen.

Quelle: Die Salonkolumnisten

Leider habe auch ich den erfahrungsgesättigten Eindruck, dass Laurin nicht ganz falsch liegt und dieses ziemlich düstere Szenario nicht vollkommen unwahrscheinlich ist. [Update 16.11.2019 10:40] Die ersten Anti-Tesla-Truppen ziehen sich zusammen.

So ist es also: Wir haben uns an die Unbeweglichkeit unserer Gesellschaft und unseres Staates, an die Technikfeindlichkeit vieler Leute, an das ewige Genörgel, die dauernde Bedenkenträgerei, die elende Suche nach dem Haar in der Suppe schon so gewöhnt, dass wir direkt mit Zynismus reagieren. Wir halten es für wahrscheinlich, dass hier eine neue Investitionsruine entsteht, ein neuer Sarg für Steuermilliarden – als Folge einer unübersichtlichen Gemengelage aus Partikularinteressen, gesetzlichen Regelungen und der Not-In-My-Backyard-Mentalität mittelalter Nörgelbürger aus Anti-Windkraft-Vereinen. OK, Boomer.

Jenseits des Zynismus

Neben dem brandenburgischen Ministerpräsidenten freut sich immerhin der Elektroauto-Unternehmer Günther Schuh über die Initiative von Elon Musk.

Tatsächlich ist die Entscheidung für Deutschland logisch: Hier gibt es jede Menge erfahrene Leute vom Facharbeiter bis zum Ingenieur, Synergien mit deutschen Mittelständlern aus Maschinenbau und Automatisierungstechnik und es ist denkbar, dass ein Tesla „Made in Germany“ ein europaweiter Verkaufsschlager wird.

Außerdem gibt es gerade in Deutschland viele kaufkräftige SUV-Fans, an die sich das Modell Y in erster Linie richtet. Es ist recht gut auf den deutschen und europäischen Markt zugeschnitten. Obwohl sich der Blick der SUV-Gegner immer auf Schlachtschiffe wie X7 oder Q7 richtet, verkaufen sich diese Brummer eher schlecht. Kompakt-SUVs dagegen sind die Autokategorie mit den größten Wachstumsraten – Elon Musk wird das berücksichtigt haben. (Am Rande bemerkt: Elon Musk ist das, was Rheinländer „positiv bekloppt“ nennen, also das völlige Gegenteil von dumm.)

Zum Schluss noch eine Auswahl an kritischen und begeisterten Kommentaren zur Gigafactory Berlin-Brandenburg:

Dass sich Musk ausgerechnet das Mutterland des Automobils als neuen Standort ausgesucht hat, spricht für das Selbstbewusstsein des Unternehmers. Er scheut nicht die Konkurrenz der etablierten deutschen Autobauer, er greift sie sogar unmittelbar an.

Don Dahlmann, Gründerszene

Musk macht in jüngster Zeit nicht mehr mit Eskapaden von sich reden, sondern mit Fortschritten im Geschäft. Tesla meldete gerade zum ersten Mal seit einigen Quartalen wieder einen Gewinn und gab dabei auch Anlass zur Hoffnung, profitabel bleiben zu können.

Roland Lindner, F.A.Z.

War Tesla für die deutschen Autobauer anfangs ein belächelter Gernegroß und alsbald ein ernstzunehmender Wettbewerber, dürfte sich die Sache jetzt umkehren.

Henrik Böhme, Deutsche Welle

Musk ist bekannt für seinen unermüdlichen Einsatz. Und den fordert er auch von seinen Leuten. Dabei ist ihm egal, ob es sich um Kolleginnen aus dem Topmanagement oder vom Fließband handelt.

Anne-Katrin Schade, Zeit Online

Spektakuläres Ende dieser Geschichte war, dass DeLorean beim Drogenschmuggel gefilmt wurde. Schließt sich hier ein Kreis zum Kiffer Elon Musk?

Kevin P. Hoffmann, Tagesspiegel

北京折叠 – SF aus China

Die Bingobox verbreitet sich wie ein Virus. Kein Wunder, denn sie löst ein nerviges Alltagsproblem: Wer etwas einkaufen will, muss häufig Umwege in Kauf nehmen. Die Stadt wächst schneller als ihre Infrastruktur. Da ist ein Container mit einem automatischen Laden genau die richtige Lösung. Einfach hineingehen, dass Gesicht scannen lassen und dann einkaufen. Nudelpakete, Bambussprossen, vakuumiert verpacktes Geflügel – Kameras erfassen die Waren und rechnen sie über das Kundenkonto ab. Noch bequemer geht es nicht.

Nicht alle Probleme einer Megacity mit 80 Millionen Einwohnern sind so einfach zu lösen. Doch nach Jahren des Bauens ist es soweit: Man kann Peking falten. Es gibt nun drei Städte dieses Namens, jede wird regelmäßig in die Erde hinein- und später wieder herausgefaltet. Wenn ihre Zone weggefaltet ist, schlafen die Bewohner dank eines speziell dafür entwickelten Medikaments. Werden sie herausgefaltet, haben sie ein paar Stunden Zeit, um ihren Alltagsgeschäften nachzugehen. Dreimal Peking, dreimal Lebensraum für Millionen, dreimal eine boomende Stadt.

Chinesische Lösungen für Chinas Probleme

Beide Szenarien spielen in Chinas Hauptstadt. Das Pekinger Startup Bingobox bietet bereits seit einigen Jahren automatische Läden an, die sich in China rasch verbreiten. Der Grund: Die Städte in China wachsen und werden dauernd umgebaut. Mit einer Bingobox ist eine Vor-Ort-Versorgung schneller erreicht als durch Bau und Einrichtung eines herkömmlichen Supermarkts. Ein kleines Team aus Servicekräften hilft notfalls per Video-Chat. So können ein paar Leute Dutzende Bingoboxen überwachen. Für das Unternehmen ist das effizient und wenn die Umsätze nicht stimmen, kommt ein Kranwagen und versetzt den Laden an eine andere Stelle.

Eine prosperierende Megamillionenstadt wie Peking (oder Shanghai, Shenzhen, Guangzhou und andere) erfordert ungewöhnliche Maßnahmen. Die SF-Autorin Hao Jingfang hat sich hier in ihrer Erzählung „Peking falten“ etwas Spezielles ausgedacht: Um den städtischen Raum möglichst effizient zu nutzen, gibt es drei Sektoren, die sich platzsparend drehen, in der Erde versenken und zusammenfalten lassen. Nach einem strengen Plan wird immer nur ein Sektor entfaltet, damit die Menschen darin ihren Tätigkeiten nachgehen können.

Regierungsfunktionäre, wichtige Unternehmer und andere bewährte Bürger leben in Zone Eins, die für einen ganzen, 24-stündigen Tag herausgefaltet wird. Da zu dieser Gruppe nur fünf Millionen Personen gehören, haben sie mehr Raum zum Wohnen, Arbeiten und Erholen zur Verfügung. Die 25 Millionen Bürger der Mittelschicht leben in Zone Zwei, die 16 Stunden aktiv ist und Zone Drei – nun, das ist die Zone für die Unterschicht. Diesen 50 Millionen Einwohnern macht es ohnehin nichts aus, die meiste Zeit ihrer acht verfügbaren Stunden im Dunkeln zu verbringen.

Vor diesem Hintergrund entfaltet Hao eine Noir-Story: Der Müllarbeiter Lao Dao unternimmt einen abenteuerlichen Botengang von der dritten in die erste Zone – was eigentlich verboten ist, denn die Bewohner dürfen ihre Zone nicht verlassen. Die Story ist eine Dystopie, mit Kritik an patriarchalisch-autokratischen Politikansätzen, die eine Spezialität des chinesischen Staates sind. Doch die Geschichte erhebt sich nicht über ihren Protagonisten. Sie folgt ihm auf seinem Weg durch die Sektoren, weiß aber nicht mehr, als seine Perspektive zulässt. Die Ungleichheit des dreifachen Pekings wird gezeigt, aber nicht wie in einem politischen Pamphlet beklagt. 

Genau das macht die Eleganz der Story aus und genau das hat sie preiswürdig gemacht, so dass sie als zweite chinesische Autorin 2016 mit dem renommierten Hugo-Award für die beste Science-Fiction-Erzählung ausgezeichnet wurde. Im Jahr davor erhielt ihr Kollege Liu Cixin den Hugo-Award für den besten Roman. Ausgezeichnet wurde der erste Band seiner Trisolaris-Trilogie „Die drei Sonnen“ , der im chinesischen Original bereits 2007 erschienen ist. Seit dem Frühjahr ist die Trilogie auch vollständig auf Deutsch erhältlich.

Die Breite (und Größe) chinesischer SF

Hao Jingfang und Liu Cixin zeigen die Bandbreite der modernen Science-Fiction in China. Die Autorin ist zwar Physikerin und Betriebswirtin, interessiert sich aber wenig für technisch ausgerichtete Hardcore-SF. In ihrer Erzählung, aber auch in ihrem Roman „Wandernde Himmel“ stehen Motive, Handlungen und Erfahrungen ihrer Hauptfiguren im Vordergrund. Sie setzt sie Situationen aus, zu deren Bewältigung Aufmerksamkeit, Neugier und Offenheit für andere Denkweisen notwendig ist. So ist im Roman eine Jugendliche vom Mars die Hauptfigur, die als Botschafterin des guten Willens in ein irdisches College geschickt wird und nach einigen Jahren wieder zum Mars zurückkehrt. Ihre Erfahrungen erlauben ihr, die Perspektive der in eine politische Krise verwickelten Planeten Erde und Mars zu übersteigen und eine Lösung zu finden.

Liu Cixin ist von einer anderen Art. Am besten lässt es sich durch eine vossianische Antonomasie ausdrücken: Er ist der Isaac Asimov Chinas. Seine Weltentwürfe sind aufregend, kurzweilig, stark an der amerikanischen Pop-Kultur und deren Filmsprache geschult. (Nebenbei bemerkt: Chinesen kennen sich deutlich besser mit der westlichen Kultur aus als Westler mit der chinesischen.) Seine Trilogie beginnt mit den Exzessen der Kulturrevolution und endet mit dem Tod des Universums. Trotz des enormen Umfangs von (in der deutschen Übersetzung) rund 2.400 Seiten ist es kaum möglich, die Bücher aus der Hand zu legen – vom erschöpften Absinken in einem Fluss ohne Ufer kann keine Rede sein.

Der gigantische Weltentwurf von Liu trägt tatsächlich über diese lange Strecke. Das liegt an seinem enormen Ideenreichtum, seinen wissenschaftlich unterfütterten Überlegungen zu Technik und Gesellschaft und seiner erzählerischen Potenz. Das Werk von Liu erinnert an die weit ausgreifenden Erzählstränge älterer chinesischer Romane wie „Die Reise in den Westen“ von Wu Cheng-en oder „Die drei Reiche“ von Luo Guanzhong. Sie gehören zu den kanonisierten Klassikern der chinesischen Literatur und sind deshalb auch für heutige Autoren als Referenz verpflichtend – ähnlich wie Homer, Augustinus, Cervantes, Shakespeare oder die Bibel in der europäisch geprägten Literatur.

Das Universum als dunkler Wald

Es ist unmöglich, in wenigen Absätzen eine sinnvolle Zusammenfassung der Trilogie zu geben. Auf ganz oberflächlicher Ebene geht es um eine Auseinandersetzung zwischen Menschen und den außerirdischen Trisolariern. Sie sind über Radiowellen auf die Menschheit aufmerksam geworden. Ihre Reaktion: Sie senden eine Raumschiffflotte, um die Erde zu erobern und ihre unwirtliche Heimat zu verlassen. Auf einer tieferen Ebene geht es um die Auseinandersetzung zwischen Kulturen, die sich sehr fremd sind und sich in dieser Fremdheit weder verstehen, noch missverstehen, noch nicht-verstehen. Jede der beiden Kulturen macht sich ihr eigenes Bild vom jeweils anderen, doch es erweist sich immer wieder als falsch.

Das Trisolaris-Universum wird als dunkler Wald geschildert, voll mit Lebewesen, die nicht miteinander reden können, ja nicht einmal dürfen. Die schwachen und wenig bewehrten verstecken sich ängstlich in der Schwärze und geben keinen Laut von sich. Anderenfalls werden sie von gnadenlosen Raubtieren bemerkt und vernichtet. Doch auch diese dürfen keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, allzu rasch werden sie zur Beute von noch stärkeren Wesen. Darum ist es in unserer Galaxie so still. Darum gibt es so viele Planeten, von denen keine Signale zu hören sind. Darum ist es so gefährlich, einfach Radiowellen in die Gegend zu senden.

Eine optimistische Lösung der Drake-Gleichung würde bedeuten, dass wir bereits Kontakt mit Aliens haben oder sie uns zumindest beobachten. Es gibt einige Anhaltspunkte dafür, dass die Galaxie von Leben erfüllt ist, auch wenn es sich nur selten um intelligentes Leben handeln mag. So hat sich gezeigt, dass eine unglaublich große Zahl an Sonnen Planeten besitzt. So ist wenigstens ein Parameter der Drake-Gleichung mit einem hohen Wert belegt. Trotzdem ist es uns (jedenfalls bis jetzt) nicht gelungen, eine andere Zivilisation zu entdecken. Nach der Theorie vom dunklen Wald hat diese Ruhe nur zwei Erklärungen: Die außerirdischen Zivilisationen stellen sich tot, weil sie überleben wollen. Oder sie wurden bereits entdeckt und vernichtet.

Liu scheint eher an Möglichkeit Zwei zu denken. Sein Universum ist kalt und gefühllos; die Kälte der kosmischen Hintergrundstrahlung überträgt sich auf die Mentalität der Lebensformen. Zwischen ihnen gibt es keine Verständigung. Für die Vertreter der Superzivilisationen, die im dritten Band einen dimensionalen Zusammenbruch des Raums erzeugen und damit die gesamte Milchstraße vernichten, sind niedrigere Lebensformen so etwas wie Wanzen: Sie treten angewidert darauf. Was bleibt? Ein paar Menschen retten sich, reisen ans (räumliche und zeitliche) Ende des Universums und beobachten sein Verschwinden. Vielleicht eine tröstliche Botschaft: Das Individuum siegt, denn es bleibt bis zuletzt.

Der Mensch und sein Sozialraum: SF in China

Starke, eigenwillige, oft egoistisch agierende Menschen bringen die Geschichte in den drei Bänden voran. Auch in dem Roman „Die Siliziuminsel“ von Chen Qiufan ist der treibende Faktor die rebellische, unangepasste Individualität der drei Hauptfiguren. Da ist der Economic Hitman Scott Brandle, der nach langer Zeit im Westen auf die Siliziuminsel zurückgekehrte Chen Kaizong und die Wanderarbeiterin Mimi, die zu einem Software-Cyborg wird und den Aufstand der Müllmenschen anführt. Chen hat diese drei auf der Siliziuminsel abgekippt, zusammen mit einem Riesenhaufen Cyberschrott vom Exoskelett bis zum Hirnimplantat. Sein Buch schreibt die (von der chinesischen Regierung kürzlich unterbundene) Praxis der westlichen Länder fort, ihren Müll in China abzukippen. Er entwickelt wie Hao oder Liu keine positive, naive Vorstellung von der Zukunft, sondern eine Dystopie, die den Menschen enormes abverlangt.

In seinem Roman, aber auch allen anderen hier vorgestellten Geschichten kämpfen die Protagonisten den Kampf jedes Individuums: Die Auseinandersetzung mit ihrer Lage, ihren persönlichen Wünschen, ihren Absichten und Gefühlen, dem gesellschaftlichen Hintergrund, den Möglichkeiten, die ihnen dieser gibt und den Grenzen ihrer Bemühungen. Das Setting ist mal Cyberpunk, mal ein galaktischer Weltentwurf. Die Figuren sind Chinesen, häufig aber auch Westler. Die geschilderte Welt ist ein Hybrid aus Osten und Westen. So beschreibt Liu, wie Englisch und Mandarin verschmelzen – erst zu einer Lingua Franca, später dann zur Muttersprache der Menschheit. In dieser Zeit wandelt sich die menschliche Gesellschaft mehrfach und wird mal kriegerischer, mal friedlicher. Liu dekliniert hier die Möglichkeiten einer Mischkultur durch, die sich über einen ganzen Planeten erstreckt und von einer unvorstellbaren Gefahr bedroht wird.

Ein einfacher Rückschluss auf das moderne China verbietet sich, doch eines ist klar: Diese chinesischen SF-Autoren schildern Westen und Osten auf Augenhöhe. In ihren Geschichten drückt sich das Selbstbewusstsein der Chinesen aus. Mit Sicherheit verstehen sie sich als Menschen der Zukunft und nicht der Vergangenheit alteuropäischer Prägung. Ein weiteres Beispiel dafür ist ein aufsehenerregendes, maximal CGI-lastiges Scifi-Action-Mashup-Movie, das aber nicht aus Hollywood kommt, sondern aus China: Die wandernde Erde. Basierend auf einer Short-Story von Liu Cixin entwirft das chinesische Produktionsteam ein gigantisches Schlachtengemälde, bei dem gleich die ganze Erde bewegt wird. Und natürlich geben Chinesen die Richtung vor.

Bildquelle: Xiaochen0 / Pixabay

Digitale Selbstverständlichkeit

Ist das alles wirklich erst seit einem Jahrzehnt unser Alltag? Was haben wir früher eigentlich gemacht, wenn wir wissen wollten, ob es am nächsten Tag regnet? Inzwischen schauen wir für die Antwort ganz automatisch auf das Smartphone. Wenn wir in eine unbekannte Gegend fahren, nutzen wir Google Maps. Wenn wir eine Bahnfahrkarte brauchen, bestellen wir sie mit einer App. Dank Onlineshops können wir spontan etwas kaufen, was wir gerade bei einem Bekannten gesehen haben. Und wenn uns irgendjemand ein leckeres Rezept aus seinem Lieblings-Kochbuch zeigt, fotografieren wir es, statt es abzuschreiben.

Der digitale Reflex: Apps nutzen, ohne es zu merken

So hat sich das Smartphone in unseren Alltag eingeschlichen. Manch einer nutzt beinahe drei Dutzend digitaler Dienste am Tag. Doch fragt man ihn oder sie, so lautet die Antwort: Ich nutze etwa sieben Apps am Tag. Dieses Missverhältnis zeigt, dass viele Leute deutlich mehr Apps nutzen, als sie bewusst wahrnehmen. Das ist eines der Ergebnisse einer aktuellen Untersuchung der Cisco-Tochter AppDynamics. Das Unternehmen besitzt durch seine Auswertung der Nutzungsparameter von Apps Information aus erster Hand und hat sie durch eine Befragung von Konsumenten ergänzt. In seinem globalen „App Attention Index“ analysiert der App-Intelligence-Anbieter genau, wie Kunden Apps in der Realität nutzen und welche digitale Customer Experience sie erwarten.

So geben die Befragten an, nur sieben digitale Dienste pro Tag zu nutzen. Doch die harten Nutzungsdaten sprechen eine andere Sprache: Es sind mehr als 30. Doch immerhin ist einem Großteil (68%) der Befragten klar, dass der Einsatz von Apps inzwischen zum „digitalen Reflex“ geworden ist, wie AppDynamics es nennt. Digitale Services werden verstärkt unbewusst genutzt. Ein gutes Beispiel ist der regelmäßige Blick auf die Wetter-App, die zumindest bei den Nutzern von Android-Smartphones ihre Daten direkt auf dem Homescreen anzeigt. Ein zweites gängiges Beispiel ist der regelmäßige Kontrollblick auf WhatsApp, ob bereits eine Reaktion auf eine eben geschriebene Nachricht erfolgt ist.

Die meisten Befragten der Studie schätzten die positiven Auswirkungen auf das tägliche Leben. So sind 70 Prozent überzeugt, dass Apps Stress reduzieren und 68 Prozent denken, dass sie ihre Produktivität zu Hause oder am Arbeitsplatz verbessert haben. In vielen Fällen erfüllen die Apps im Leben der Menschen so wichtige Aufgaben, dass sie kaum darauf verzichten können. 55 Prozent der Befragten gaben an, dass sie höchstens vier Stunden ohne Smartphone auskommen und 50 Prozent greifen nach dem morgendlichen Aufwachen zuerst zum Mobilgerät.

Süchtig nach Social Media und Internet?

Auf viele (meist ältere) Leute, die nur wenig Kontakt mit digitalen Services haben, wirken solche Verhaltensweisen irritierend. Und so werden Grusel-Schlagzeilen wie die folgende gern gelesen: 100.000 Kinder und Jugendliche sind Social-Media-süchtig. Das klingt bedrohlich, doch was steckt wirklich dahinter? Die Zahlen stammen aus einer Studie der Deutschen Angestellten Krankenkasse DAK, in der rund 1.000 Kinder und Jugendliche zwischen zwölf und 17 Jahren zu ihren Verhalten in sozialen Medien befragt wurden. 26 davon haben einige Kriterien für Suchtverhalten erfüllt. Und hier tauchte wie bei ähnlichen Studien ebenfalls eine Übereinstimmung auf: Einige Jugendliche gaben an, sowohl unter depressiven Stimmungen zu leiden, als auch Social Media übertrieben intensiv zu nutzen.

[toggle title=“Was genau ist Social-Media-Sucht?“]

Die DAK-Studie fragte bei seiner Stichprobe aus Jugendlichen auch das psychometrische Instrument „Social Media Disorder (SMD) Scale“ ab, das von niederländischen Psychologen entwickelt wurde. Es sei sehr gut geeignet, zwischen Vielnutzern einerseits und Personen mit Suchtverhalten andererseits zu unterscheiden, konstatiert eine Analyse des Instruments. Die SMD-Skala basiert auf einem Katalog aus neun Fragen, von denen mindestens Fünf mit „Ja“ beantwortet werden müssen, um Hinweise auf eine Suchtstörung anzuzeigen. Es sind die folgenden neun Fragen, von mir aus dem Englischen in das Deutsche übersetzt:

Wenn Du an das vergangene Jahr denkst:

1. Hast Du schon mal versucht, weniger Zeit mit sozialen Medien zu verbringen, bist aber daran gescheitert?
2. Warst Du regelmäßig unzufrieden, weil du mehr Zeit mit sozialen Medien verbringen wolltest?
3. Hast Du dich oft schlecht gefühlt, wenn du keine sozialen Medien nutzen konntest?
4. Hast Du schon mal versucht, weniger Zeit mit sozialen Medien zu verbringen, bist aber daran gescheitert?
5. Hast Du andere Aktivitäten wie etwa Hobbys oder Sport häufig vernachlässigt, weil du soziale Medien nutzen wolltest?
6. Hast Du regelmäßig Streit mit anderen wegen deiner Nutzung von sozialen Medien?
7. Hast Du Eltern oder Freunde häufiger über die Zeit angelogen, die Du mit sozialen Medien verbringst?
8. Hast Du oft soziale Medien genutzt, um negativen Gefühlen zu entkommen?
9. Hast Du wegen deiner Nutzung von sozialen Medien ernsthafte Konflikte mit deinen Eltern oder Geschwistern?

Es handelt sich hier um eine Skala, die in erster Linie ein Diagnoseinstrument für eine einzelne Person ist. Es ist schwierig, sie auf eine soziologische Untersuchung zu übertragen – der familiäre und soziale Kontext der Kinder und Jugendlichen ist nicht bekannt. So müsste ein Psychologe erst ein längeres Anamnesegespräch mit Kindern oder Jugendlichen führen, um das vermutete Suchtverhalten zu bestätigen – und vor allem, um eine damit verbundene Depression zu diagnostizieren. In der Soziologie wäre das durch eine einzelne quantitative Studie nicht zu leisten, sondern würde umfangreiche und teure qualitative Studien erfordern. Auf jeden Fall gilt für die SMD-Skala : Die Anzahl und Art der Antworten allein ist lediglich ein Anfangsverdacht.

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Solche Ergebnisse gibt es bei zahlreichen soziologischen Untersuchungen. Immer wieder tauchen Korrelationen zwischen Intensivnutzung von Internet, Games und Social Media einerseits und Depressionen andererseits auf. Eine Kausalität lässt sich hieraus nicht ableiten – obwohl es in den meisten Medien immer getan wird („Instagram macht Mädchen depressiv“). Eines der wichtigsten Probleme dabei ist die Unschärfe der Fragen und Instrumente. Sie geht zurück auf einen Mangel an gut bewährten soziologischen Erkenntnissen über Jugend und Digitales; etliche Studien reflektieren lediglich allgemeine Vorurteile über die Jugend oder das Internet. Eine Ausnahme sind eine Grundlagenstudie von 2014 und die auf ihr aufbauende Nachfolgestudie von 2018, beide vom Sinus-Institut in Heidelberg.

[toggle title=“Jugend & Internet – die Sinus-Studien“]

In diesen Studien überträgt Sinus den von ihm entwickelten Milieuansatz auf die Internetnutzung von neun bis 24-jährigen. Im Einzelnen geht es um folgende Milieus bzw. Lebenswelten: Verantwortungsbedachte und Skeptiker sind eher defensiv und vorsichtig. Pragmatische und Unbekümmerte haben einen ausgeprägten Teilhabewunsch, ihr Leben spielt sich deshalb größtenteils online ab. Sie  sehen sich nicht unbedingt als Experten und pflegen einen pragmatischen, teils unbedarften Online-Stil. Enthusiasten und Souveräne sind Intensiv-Onliner mit unterschiedlich ausgeprägter Grundhaltung. Während die Enthusiasten Risiken eher ausblenden, sind die Souveränen kritisch und suchen einen Weg, selbstbewusst mit Online-Gefahren umzugehen.

Soweit der Status 2014. in den folgenden vier Jahren haben sich einige Veränderungen ergeben. So musste Sinus für die 2018er-Studie das Kriterium der Internetferne streichen, es ist kein konstituierende Merkmal für ein Milieu mehr. Denn bei den derzeit Unter-25-jährigen gibt es keine Offliner. Das Internet ist fester Bestandteil ihres Alltags und nicht mehr optional. Wer sich hier bewusst dagegen entscheidet, ist in seiner Teilhabe eingeschränkt. Das ist Jugendlichen und jungen Erwachsenen deutlich bewusst. Für sie ist es keine Frage mehr, das Internet zu nutzen. Es geht stattdessen nur noch um das Wie.

Die Studien sind interessanter Lesestoff und bieten viele Erkenntnisse. Eine von zahlreichen: Kinder und Jugendliche sind ihrer eigenen Online-Nutzung deutlich skeptischer gegenüber eingestellt, als es den Eindruck macht. Zwar können sie sich ein Leben ohne Internet nicht mehr vorstellen, doch fast jeder dritte Jugendliche nimmt das eigene Nutzungsverhalten als problematisch wahr. Zudem fürchten zahlreiche Jugendliche typische Gefahren wie Cybermobbing oder Identitätsdiebstahl.

Trotz ihrer Informiertheit über die Gefahren fühlen sich viele Jugendliche eher schlecht auf ihre persönliche digitale Zukunft vorbereitet. Eine wachsende Gruppe erkennt, dass sie sich lediglich virtuos auf Oberflächen bewegt, aber von den technischen Hintergründen keine Ahnung hat. Das zu ändern, wäre natürlich eine Aufgabe für das Bildungssystem. Aber leider ist die Institution Schule eher nonline…

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Die Studien zeigen deutlich, dass junge Leute zu einem souveränen, aber untechnischen Umgang mit der digitalen Welt neigen. Kurz: Sie sind digitale Konsumenten. Und natürlich gibt es auch hier ein Zuviel des Konsums. Eine eingebaute Tendenz zur Dauernutzung haben vor allem spielerische Angebote mit hoher Attraktivität und einer eingebauten, ebenfalls sehr attraktiven Belohnung – etwa Aufmerksamkeit durch Zustimmung und Lob anderer Nutzer. Sucht-ähnliches Verhalten betrifft aber nur eine kleine Minderheit und die auslösenden Faktoren sind nicht hinreichend geklärt.

Die große Mehrheit der Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat digitale Dienste in ihre Lebenswelt integriert, vor allem Spiele und Social Media. Sie werden genutzt, weil sie da sind und weil sie praktisch sind. Oft handelt es sich aber auch um Jugendkultur-Phänomene, die nur von einer bestimmten Altersgruppe oder einigen Jahrgangskohorten sehr intensiv genutzt werden. Anschließend werden die entsprechenden Apps uninteressant und verschwinden in Einzelfällen sogar vom Markt, wie beispielsweise Musical.ly.

Die App-Konsumenten der Zukunft

Die Sinus-Studien stellen eine recht große Heterogenität der Nutzung von digitalen Diensten fest, doch auch einige Gemeinsamkeiten in allen Milieus: Es gibt keine Offliner mehr und digitale Services werden als Bestandteil des täglichen Lebens akzeptiert – von einigen sehr enthusiastisch, von anderen auch kritisch. Aus Sicht von Unternehmen ist das eine interessante Konsumentengruppe: Sie nutzen Fun- und Game-Apps besonders intensiv, sind aber auch aber auch offen für Marketing-Apps und andere digitale Angebote von Unternehmen.

Doch genau diese Konsumentengruppe ist anspruchsvoll und somit wird der durchschnittliche App-Nutzer auch immer mäkeliger. Die App-Dynamics-Studie konstatiert eine Null-Toleranz-Einstellung gegenüber schlechten digitalen Diensten. So gaben etwa drei Viertel  der Befragten an, dass in der letzten Zeit ihre Erwartungen an die Leistungsfähigkeit von Apps gestiegen sind. Eine Mehrheit von 70 Prozent toleriert keine technischen und sonstigen Probleme mit den Apps. Auch wenn die freiwillige Angabe von Zahlungsbereitschaft immer etwas problematisch ist: Immerhin jeder zweite der Befragten würde für digitale Produkte und Services einen höheren Preis in Kauf nehmen, wenn die Qualität höher ist als bei den Mitbewerbern.

Verbraucher verzeihen schlechte Erfahrungen nicht mehr einfach so: Sie wechseln zum Wettbewerber (49%) oder raten anderen von der Nutzung des Dienstes oder der Marke ab (63%). Aus der Studie lassen sich zwei wichtige Anforderungen ableiten, den Unternehmen bei der Entwicklung ihrer digitalen Services beachten sollten:

  1. Arbeitsgeschwindigkeit: Die Leistung der Anwendung steht im Vordergrund. Ruckeln, lange Reaktionszeiten, endlose Datenübertragungen – all das macht für die Verbraucher einen schlechten Service. Da moderne Apps meist keine lokale Anwendungslogik mehr haben, sondern ein Cloud-Backend, ist Application Performance Management (APM) das Entdecken und Beheben von Problemen notwendig. Anbei sollte der gesamte Technologie-Stack vom Frontend über das Backend bis hin zum Netzwerk in Echtzeit überwacht werden.
  2. Benutzererfahrung: Wichtig ist auch eine moderne, leicht verständliche und einfach zu bedienende Benutzeroberfläche. Das klingt wie eine Binse, ist aber leider immer noch nicht selbstverständlich. UX/UI-Design (User Experience, User Interface) ist heute eine eigene Disziplin des Software-Engineering und  muss von den Unternehmen ernst genommen werden. Vor allem die nachwachsenden Generationen sind in dieser Hinsicht anspruchsvoll, sie erwarten eine intuitive Bedienung, die keine Fragen offen lässt.

Bildquelle: TeroVesalainen / Pixabay

Die Lage der KI-Forschung

State of AI 2019 Report herunterladen

Eine Suche in Google Trends zeigt es deutlich: Künstliche Intelligenz (KI) bzw. Artificial Intelligence (AI) ist weltweit ein Hype. Der Suchbegriff wird etwa doppelt so häufig abgefragt wie am Anfang des Jahrzehnts. Dabei handelt es sich nicht um einen kurzlebigen Trend. Obwohl es ganz offensichtlich gewisse Konjunkturen gibt, ist das Interesse am Suchbegriff seit einigen Jahren kontinuierlich hoch. Und wer in das Suchfeld von Google den Begriff „Artificial Intelligence“ eingibt, erhält die ersten zehn von ungefähr 436 Millionen Webseiten zu diesem Stichwort präsentiert.

Es ist nur sehr schwer möglich, hier noch einen einigermaßen fundierten Überblick zu behalten. Einen ebenso wichtigen wie interessanten Ausschnitt aus der KI zeigt der Bericht State of AI 2019. Die beiden Autoren Nathan Benaich und Ian Hogarth sind langjährige Beobachter der KI-Szene als Investoren und Wissenschaftler. Sie präsentieren nach eigener Auskunft auf 136 Seiten „einen Schnappschuss der exponentiellen Entwicklung der KI mit einem Schwerpunkt auf Entwicklungen in den letzten zwölf Monaten“. Der Bericht widmet sich fünf wichtigen Schlüsselbereichen innerhalb der künstlichen Intelligenz und präsentiert sie in den folgenden Abschnitten:

  • Research: Forschungsergebnisse und technologische Durchbrüche.
  • Talent: Berufsbilder und Personalgewinnung in der KI.
  • Industry: KI-Unternehmen und ihre Finanzierung.
  • China: Neue KI-Trends in China.
  • Politics: Die Behandlung der KI im Rahmen von Politik und Gesellschaft.

Da der Bericht nur schwer zusammenzufassen ist, habe ich einige besonders interessante Themen ausgewählt und sie jeweils in einem Kurzartikel dargestellt. Wer einen lesen möchte: Einfach auf den grauen Balken mit dem Thema klicken.

[toggle title=“Reinforcement Learning“]

Reinforcement Learning

Diese Form von Deep Learning ist in den letzten Jahren intensiv erforscht worden. Das Prinzip: Software-Agenten lernen zielorientiertes Verhalten durch Versuch und Irrtum. Sie agieren dabei in einer Umgebung, die ihnen positive oder negative Belohnungen als Reaktion auf ihre Handlungen gibt. Für das Training von neuronalen Netzwerken sind die KI-Entwickler dazu übergegangen, Computerspiele wie beispielsweise Montezuma’s Revenge (Jump’n’Run), Quake III Arena (Egoshooter) oder Star Craft II (Echtzeit-Strategiespiel) einzusetzen.

Solche Umgebungen, aber auch speziell angefertigte Computersimulationen eignen sich hervorragend dazu, Verhalten zu variieren und anschließend erfolgreiches Verhalten zu wiederholen. Darüber hinaus sind die Belohnungen bereits in die Games integriert. In der realen Welt sind variantenreiche Lernumgebungen nicht so einfach umzusetzen, etwa für die Robotik.

So hat OpenAI eine Roboterhand in einer Simulation darin trainiert, physikalische Objekte zu manipulieren. Auch das zweibeinige Gehen wird gerne in Simulationen geprobt, denn es ist weniger einfach, als wir Menschen intuitiv glauben. Um nicht regelmäßig teuren Elektroschrott zu erzeugen, werden gehende Roboter deshalb ebenfalls in Simulationen trainiert. Dabei wird unter anderem Reinforced Learning genutzt.

Simulationen und Computerspiele eignen sich gut zum Trainieren von lernfähigen Systemen, da sie kostengünstig und weithin verfügbar sind. Im Grunde kann jeder Entwickler damit arbeiten, auch ohne Risikokapital im Hintergrund. Darüber hinaus können die Spielumgebungen unterschiedlich komplex gestaltet werden. Das ist einer der Gründe, warum Open World Games wie Grand Theft Auto gerne beim grundlegenden Training von Deep-Learning-Modellen für das autonome Fahren genutzt werden.

Sind Games und Simulationen also die optimale Umgebung für das KI-Training? Sicher nicht, wie auch die Autoren des Berichts nahelegen. Denn jede simulierte Welt ist deutlich weniger komplex als die wirkliche Welt. Im Normalfall wird das Ergebnis niemals ein austrainiertes KI-Modell sein, das direkt und ohne Probleme in der Wirklichkeit eingesetzt werden kann. Die Erfahrungen mit den bisherigen KI-Anwendungen für fahrerlose Autos zeigen, dass hier auch ein altbekanntes Prinzip für die Optimierung von Prozessen gilt: Die letzten Prozent der zu trainierende Fähigkeiten machen mindestens so viel Aufwand wie der Rest.

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[toggle title=“Natural Language Processing“]

Natural Language Processing

Alexa, Siri & Co. haben in den letzten Jahren gezeigt, dass Natural Language Processing (NLP) recht weit fortgeschritten ist und es zahlreiche alltagstauglich Anwendungen gibt — in bestimmten Bereichen. Schwierig sind echte Dialoge mit Rückbezügen auf vorher Gesagtes. Außerdem kommt das menschliche Gehirn immer noch besser mit dem uneigentlichen Sprechen wie Ironie oder Hyperbeln zurecht. Wer mit Alexa redet, muss eindeutig und in Anweisungsform sprechen, typisch menschliche Unschärfen in der Aussage führen meist nicht zum Ergebnis.

Die Erkenntnis zahlreicher Projekte: Vortrainierte Sprachmodelle verbessern die Ergebnisse von NLP deutlich. Im Bereich Computer Vision sind damit große Erfolge erzielt worden. So werden beispielsweise viele neuronale Netze für die Bilderkennung mit ImageNet vortrainiert und erst dann mit weiterem Training an den speziellen Anwendungsfall angepasst. Dieses Dataset besteht aus momentan knapp 14,2 Millionen Bildern, die nach fast 22.000 semantischen Kategorien indiziert sind. Diese wiederum sind nach den Prinzipien der lexikalisch-semantischen Datenbank WordNet organisiert.

Eine vergleichbare Vorgehensweise ist auch bei NLP sinnvoll, denn es ist aufwendig, valide Trainingsdaten für Teilaufgaben zu entwickeln — beispielsweise das Bestellen einer Pizza, wie es Google Duplex beherrschen soll. Google hat vor einiger Zeit eine Technik für das Vortrainieren von NLP-Modellen als Open Source freigegeben. Das Ergebnis heißt BERT (Bidirectional Encoder Representations from Transformers) und basiert auf demselben Neuronetz wie Google Translator. BERT kann vergleichsweise einfach durch ein Zusatztraining an die jeweilige Aufgabe angepasst werden.

Zudem kann BERT auch durch weitere Lernverfahren ergänzt werden, beispielsweise durch Multi-Task Learning (MTL). Eine Demo dieser Möglichkeiten bietet Microsoft Research mit seinem Multi-Task Deep Neural Network (MT-DNN). Dabei werden verschiedene, aber verknüpfte Aufgaben gleichzeitig gelernt, wodurch der Lernfortschritt größer wird. Pate war hier eine Eigenheit des menschlichen Lernens: Wer bereits gut auf Inlinern skaten kann, lernt das Schlittschuhfahren deutlich schneller als jemand ohne Inliner-Erfahrung.

Der Einsatz vortrainierter Modelle hat in der Computer Vision manchen Durchbruch gebracht, Benaich und Hogarth hoffen, dass dies ebenso für das Verständnis menschlicher Sprache durch neuronale Netze gilt.

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[toggle title=“Rückkehr der symbolischen KI“]

Rückkehr der symbolischen KI

Das Verstehen natürlicher Sprache ist ein wesentliches Element von Sprachassistenten. Doch zahlreiche Praktiker sind mit reinen KI-Modellen über ein Problem gestolpert: Domänenwissen lässt sich einem Neuronetz nicht ohne weiteres antrainieren, denn das Training ist aufwendig und die Gewinnung von validen Datasets teuer.

Hier kommt dann ein Ansatz ins Spiel, der Mitte der achtziger Jahre als der Königsweg zur künstlichen Intelligenz galt: Symbolische KI, die unter anderem mit Verzeichnissen von Regeln und Alltagswissen arbeitet, um das Schlussfolgern aus Common-Sense-Sachverhalten zu ermöglichen. Die bekannteste Datenbank dieser Art ist Cyc und wird seit 1984 schrittweise aufgebaut.

Dieser Ansatz galt über lange Jahre hinweg als gescheitert, da selbst eine noch so große Datenbank nicht das gesamte Weltwissen enthalten kann. Doch als Partnerverfahren ist Domänenwissen inzwischen wieder wertvoll für KI. Denn eine Datenbank wie Cyc kann ein Deep-Learning-System durch Wissensprimitive ergänzen, sodass das Training sich ausschließlich High-Level-Sachverhalten widmen kann.

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[toggle title=“Autonome Fahrzeuge“]

Autonome Fahrzeuge

Roboterautos und andere autonome Fahrzeuge gehören zu den wichtigsten Zukunftsvisionen bei KI. Einer der Vorreiter ist Waymo, dessen autonome Fahrzeugflotte auf den US-Straßen mehr als 16 Millionen Kilometer bewältigt und dabei wichtige Fahrdaten gesammelt hat. Die Daten von weiteren 11 Milliarden Kilometern in Computersimulationen kommen hinzu. Allein im letzten Jahr haben die 110 Waymo-Wagen in Kalifornien mehr als 1,5 Millionen Kilometer bewältigt.

Hinzu kommt der Datensatz von Tesla, der durch Auswertung aller von jedem einzelnen Tesla-Modell gefahrenen Kilometer entsteht. Die genaue Fahrleistung ist unbekannt, wird aber auf mehr als zwanzig Milliarden Kilometer geschätzt. Was die Menge der Daten angeht, dürfte Tesla einen uneinholbaren Vorsprung vor der Konkurrenz haben. Hinzu kommt: Das Unternehmen entwickelt seinen eigenen KI-Chip. Die Analysten des institutionellen Investors ArkInvest schätzen, dass Teslas Konkurrenten beim autonomen Fahren drei Jahre hinterher fahren.

Es ist allerdings sehr schwer, den tatsächlichen Erfolg der einzelnen Anbieter von Robotertaxis einzuschätzen. Einen kleinen Hinweis geben die von der kalifornischen Straßenbehörde veröffentlichten Disengagement-Reports. Danach schaffen Fahrzeuge von Waymo eine Jahresfahrleistung von fast 50.000 Kilometern mit lediglich einem oder zwei Aussetzern („Disengagements“), bei denen der menschliche Testfahrer übernehmen musste. Zum Vergleich: Auch Mercedes testet in Kalifornien. Doch 2018 waren es nur vier Fahrzeuge mit wenigen hundert Kilometern Fahrleistung, aber etlichen hundert Aussetzern.

Von Tesla gibt es übrigens keine Angaben dazu. Das Unternehmen sammelt zurzeit in erster Linie Fahrdaten, vermutlich um seine Modelle in Simulationen zu trainieren. Trotz des Vorsprung: Selbst der Datensatz von Tesla ist im Vergleich zu den menschlichen Fahrleistungen winzig. So wird die Gesamtfahrleistung nur der kalifornischen Autofahrer für das Jahr 2017 auf knapp 570 Milliarden Kilometer geschätzt. Dem stehen etwa 485.000 Autounfälle gegenüber, was einem Disengagement auf jeweils 1,2 Millionen Kilometer entspricht. Kurz: Das Robotertaxi scheint noch einige Zeit entfernt zu sein.

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[toggle title=“Robotic Process Automation“]

Robotic Process Automation

Robotic Process Automation (RPA) hat nichts mit Robotik zu tun, sondern ist ein Verfahren der Prozessautomatisierung und nachfolgend der Kostensenkung in Unternehmen. Das klingt im ersten Moment langweilig, ist aber ein spannendes Anwendungsgebiet in der KI. Denn es wird in der Praxis bereits eingesetzt und ist zu einem Markt mit hohen Erwartungen geworden: Anbieter wie UiPath sind mit 800 Millionen Dollar und Automation Anywhere mit 550 Millionen Dollar Risikokapital ausgestattet.

Für Unternehmen, die mit der Digitalisierung ihrer Prozesse kämpfen, ist RPA eine interessante Sache. Vereinfacht ausgedrückt ersetzen RPA-Anwendungen die menschlichen Endanwender in der vorhandenen Software-Infrastruktur. Dadurch ist es möglich, Prozesse zu automatisieren, die mehrere Anwendungen übergreifen, vor allem, wenn es keine definierten Software-Schnittstellen dafür gibt. RPA-Anwendungen sind in aller Regel lernfähig, sodass sie vergleichsweise leicht auch an exotische Altysteme anzupassen sind.

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[toggle title=“Demand Forecasting“]

Demand Forecasting

Ein brandneues Thema ist Demand Forecasting nicht, unter dem Stichwort Bedarfsermittlung wird es bereits seit längerer Zeit mit statistischen Methoden oder Fuzzy Logic umgesetzt. Es geht dabei um die Prognose der Anforderung bestimmter Ressourcen anhand von historischen Daten. Dabei wird zunehmend Machine Learning eingesetzt, um auch externe Daten (Wetter, Verkehr, Kundenströme usw.) zu berücksichtigen.

Es gibt einige Branchen und Anwendungsgebiete, in denen Demand Forecasting erfolgreich eingesetzt wird: So ermitteln Energieversorger beispielsweise den Strombedarf anhand von Wetterinformationen, Betriebsdaten und gemessenen Leistungsanforderungen. Zur Vorbereitung auf Starkregenfälle mit anschließenden Überflutung-Szenarien erschließt Machine Learning auf der Basis von historischen hydrologischen Daten neue Wege der Vorhersage von Fluten.

In Handel, Logistik, Gastronomie, Hotellerie und Touristik ordnet Machine Learning Ressourcen deutlich flexibler zu als herkömmliche Methoden. Ein Beispiel: Die Nachfrage nach bestimmten Produkten oder Services ist unter anderem vom Wetter, der aktuellen Verkehrslage in der Region, jahreszeitlichen Trends, aktuellen Moden bei Farbe oder Form und vielen anderem abhängig. Mit Machine Learning werden solche Faktoren berücksichtigt.

Große Supermarktketten müssen täglich Entscheidungen über Aufnahme, Streichung oder Nachbestellung von Millionen Einzelposten treffen. Ohne KI-Verfahren wird dies in der Zukunft schwer möglich sein, da einfache „Daumenregeln“ zu Schnelldrehern und Produktplatzierungen die immer dynamischer werdende Nachfrage kaum noch abbilden.

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Der Phonophor & das iPhone

Steve Jobs gilt als Erfinder des iPhones, doch das ist nicht ganz richtig. Denn eine genuine Erfindung ist es nicht, eher ein Konglomerat aus vorhandener Technik. So gab es 2007, im Jahr der Einführung des iPhones, bereits Smartphones. Sie besaßen oft eine Minitastatur und manchmal einen Touchscreen, der mit einem kleinen Stift bedient wurde. Das war immer ziemlich fummelig, sodass Jobs auf die Tastatur verzichtete und stattdessen einen Touchscreen nutzte, der sich mit den Fingern bedienen ließ.

Der Rest ist Geschichte. Das iPhone fand mit den kostengünstigen Android-Smartphones Nachahmer für den Massenmarkt und so haben heute viele zu jeder Zeit und an jedem Ort ein Smartphone dabei — das kleine und leichte Universalgerät rund um Kommunikation, Information und Wissen.

Ein Vorläufer des Smartphones

Wenn es so etwas wie einen Erfinder dieser Geräteklasse gibt, dann ist das erstaunlicherweise ein deutscher Schriftsteller, der 1895 geboren wurde: Ernst Jünger. Er hat nach 1945 den Pfad des Kriegers verlassen und mit unterschiedlichen literarischen Genres experimentiert, unter anderem mit utopischen Romanen.

Sein erster Versuch in diesem Genre war Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt von 1949. Das Buch bietet keine Science-Fiction in der Nachfolge von Hans Dominik, sondern eine Utopie im Stile Thomas Morus‘ — den Entwurf einer fiktiven Gesellschaft, die andere historische und gesellschaftliche Traditionen besitzt. In dem Buch ist sie autokratisch organisiert, so gibt es unter anderem eine ständige Überwachung aller Bürger.

Vehikel dafür ist der Phonophor (Allsprecher), der als eine Art Mobiltelefon allerlei Zusatzfunktionen besitzt, inklusive Personenidentifikation, Navigation, Geldbörse und einer Möglichkeit zur Anpeilung. Der Phonophor gehört zusammen mit Dingen wie Weltraumfahrt, Strahlenwaffen und Schwebepanzern zum futuristischen Hintergrundgemälde des Buches. Jünger hat dieses Szenario allerdings nur wenig ausgearbeitet. Es ist in erster Linie eine Markierung, die den Roman zeitlich in der Zukunft verankert. Doch zu seiner Idee des Phonophor schreibt Jünger etwas ausführlicher.

Die Vorzüge von Telefon und Radio

Ein Phonophor wird als flache Hülse in der linken Brusttasche getragen, aus der er fingerbreit hervorragt.

[Ein Phonophor überträgt] Orts- und astronomische Zeit, Länge und Breite, Wetterstand und Wettervoraussage. Ersetzt Kennkarte, Pässe, Uhr, Sonnenuhr und Kompaß, nautisches und meteorologisches Gerät. Vermittelt automatisch die genaue Position des Trägers an alle Rettungswarten bei Gefahren zu Lande, auf dem Wasser und in der Luft. Verweist im Peilverfahren an jeden Ort. Weist auf den Kontostand des Trägers beim Energeion und ersetzt auf diese Weise das Scheckbuch bei jeder Bank und jeder Postanstalt, und in unmittelbarer Verrechnung die Fahrkarten auf allen Verkehrsmitteln. Gilt auch als Ausweis, wenn die Hilfe der örtlichen Behörden in Anspruch genommen wird. Verleiht bei Unruhen Befehlsgewalt.

Vermittelt die Programme aller Sender und Nachrichten-Agenturen, Akademien, Universitäten, sowie die Permanentsendungen des Punktamtes und des Zentralarchivs. Hat Anschluß an alle Radiostationen mit ihren Strömen des Wissens, der Bildung und Unterhaltung, soweit sie durch Ton und Wort zu übermitteln sind. Gibt Einblick in alle Bücher und Manuskripte, soweit sie durch das Zentralarchiv akustisch aufgenommen sind, ist an Theater, Konzerte, Börsen, Lotterien, Versammlungen, Wahlakte und Konferenzen anzuschließen, und kann als Zeitung, als ideales Auskunftsmittel, als Bibliothek und Lexikon verwandt werden. Gewährt Verbindung mit jedem anderen Phonophor der Welt, mit Ausnahme der Geheimnummern der Regierungen, der Generalstäbe und der Polizei. Ist gegen Anrufe abschirmbar. Auch kann eine beliebige Menge von Anschlüssen gleichzeitig belegt werden – das heißt, daß Konferenzen, Vorträge, Wahlakte, Beratungen möglich sind. Auf diese Weise vereinen sich die Vorzüge der Telephone mit denen der Radios.

Ernst Jünger: Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt, Berlin 1948

Zusammenführen und weiterdenken

Diese Erklärungen und vor allem der letzte Satz zeigen deutlich, dass der Phonophor ausschließlich eine Sprachschnittstelle nutzt. Ein kleiner Minibildschirm mit Bedienung per Berührung war für Jünger damals unvorstellbar. Zwar kannte er mit hoher Wahrscheinlichkeit die ersten TV-Versuche in den 193oer Jahren und die darin benutzte monströse Technik. Doch er hat sie wohl als nicht für die Miniaturisierung geeignet betrachtet.

Denn der beinahe wichtigste Aspekt des Phonophors ist seine Kleinheit. Jünger hat scharfsinnig erkannt, dass technische Geräte im Laufe der Zeit schrumpfen. Er hat auch in anderer Hinsicht bereits vorhandene Phänomene weitergedacht. So sagten die Mitarbeiterinnen der Handvermittlung im Fernsprechamt seit Anfang des 20. Jahrhunderts auf Wunsch auch die Uhrzeit an. Ab 1937 wurde die Zeitansage automatisiert und von hier bis zum akustischen Lexikon ist es nur ein kurzer Denkschritt.

Ernst Jünger hat etwas ähnliches gemacht wie sechs Jahrzehnte später Steve Jobs. Er hat die vorhandene Technik weitergedacht und zusammengeführt. Aber anders als Jobs musste er sich um die Verwirklichung keine Gedanken machen, sodass manche Funktion eher umständlich ist. Denn gegenüber Audio und Video hat die Textkommunikation einen großen Vorteil: Sie ist schnell. Viele Leute lesen ein Buch rascher als sie es in einem Audiobook anhören könnten.

Innovation bedeutet nicht: Völlig neu

An der verblüffenden Ähnlichkeit des Phonophor mit dem iPhone lässt sich zeigen, was Innovation wirklich bedeutet und was nicht. Beide Geräte sind innovativ, weil sie vorhandene Ideen bündeln und zu einer Novität zuspitzen. Sie sind jedoch nicht fundamental neu. Ein Innovator hat immer einen Ausgangspunkt — er muss die Innovation ja denken können, auf der Basis seines aktuellen Wissensstands.

Doch er darf nicht dabei stehenbleiben. Ein erfolgreicher Innovator stellt gängige Denkmuster infrage und gibt sich nicht mit scheinbaren Naturgesetzlichkeiten zufrieden. Nur weil eine Sache immer schon auf eine bestimmte Weise gemacht wurde, bedeutet das nicht, dass es nicht auch anders geht. Und nur weil eine Sache noch nie gemacht wurde, ist sie nicht grundsätzlich unmöglich.

Entscheidend ist ein frischer Blick auf Selbstverständlichkeiten und der kommt meist von außen. So haben häufig fachliche Außenseiter gute, innovative Ideen, denn sie sind mit den Konventionen und Traditionen eines Sachgebiets nicht vertraut. Beides kann durchaus hinderlich sein. Wie sagte der Dadaist Francis Picabia 1922? „Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.“

Graphen: Das Milliarden-Euro-Zaubermittel

Kohlenstoff: Aus ihm sind die Zukunftsträume © Kumbabali - Fotolia.com
Kohlenstoff: Aus ihm sind die Zukunftsträume © Kumbabali – Fotolia.com

„Wunderwerkstoff Graphen“, „Härter als Diamant und stärker als Stahl“, „Dieses Material bedeutet die Zukunft“, „Graphen: Apples neuer Hightech-Werkstoff?“ Ein paar Überschriften der letzten Zeit aus Technikmedien. Sie haben damit offensichtlich den Stein der Weisen gefunden, der alle Probleme löst.

Der Grund für die hohe Aufmerksamkeit ist die ungewöhnliche zweidimensionale Wabenstruktur. Dabei ist Graphen chemisch gar nicht so besonders. Es basiert auf Graphit, einem kristallinen Kohlenstoff, der sich auch in Bleistiftminen findet. Der besitzt wie jedes andere Kristall eine dreidimensionale Struktur.

Graphen dagegen ist nur eine Atomlage dick – also extrem dünn. Der Trick: Die ultradünne Schicht wird wie eine Folie von Graphit abgenommen. In der Anfangszeit der Erforschung wurde der Stoff tatsächlich mittels Klebeband von einem Graphitblock abgezogen, heute wird er meist durch eine chemische Reaktion auf einem Trägerstoff abgeschieden.

Beide Verfahren erzeugen ein flaches Etwas, das eine mit herkömmlichen Techniken nicht mehr messbare Dicke besitzt. Es ist in einem praktischen Sinne zweidimensional, was nicht nur Laien überrascht. Denn das Verblüffende an einer 2D-Struktur wie Graphen ist seine Existenz.

Zweidimensionale Strukturen

Bis vor gut zehn Jahren galt: Solche Dinge sind stabil und zerfallen wieder, da sich bei einem Atom Dicke keine Kristalle bilden können und die Bindekraft der Einzelatome nachlässt. 2004 stellten die Nobelpreisträger (2010) André Geim und Konstantin Novoselov an der Universität Manchester fest: Graphen hält sich nicht an die Theorie und bleibt stabil.

Die zweidimensionale Wabenstruktur von Graphen © ogwen – Fotolia.com

Wegen seiner Leitfähigkeit und Flexibilität sorgt Graphen in Forschung und Industrie für großes Aufsehen. Laut zahlreichen Medienberichten soll es sich für ziemlich viel eignen: Mikrochips, flexible Touchscreens, durchsichtige Solarzellen auf Fenstern, federleichter Nässeschutz für Fasern und vieles mehr. Ein Zaubermaterial halt.

„Also, für Logikschaltungen in Mikrochips eignet sich Graphen schon mal nicht“, erdet Prof. Dr.-Ing. Max Lemme die Diskussion. Er leitet den Lehrstuhl für Graphen-basierte Nanotechnologie an der Universität Siegen und erklärt: „Es ist kein Halbleiter, weshalb die aktuelle Forschung wieder von dieser Anwendung abgerückt ist.“

Er ergänzt: „Da eignen sich andere Stoffe viel besser, zum Beispiel Molybdändisulfid.“ Das ist eigentlich ein trockenes Schmiermittel mit einer Graphit-ähnlichen Konsistenz. Es ist in der Autoindustrie schon lange bekannt, als Hauptbestandteil eines viel genutzten Motoröl-Additivs.

Die Forschung kennt inzwischen etwa 500 verschiedene Stoffe, die ähnliche Eigenschaften wie Graphen oder Molybdändisulfid haben. In den Medien ist aber vorwiegend von dem zweidimensionalen Kohlenstoff die Rede die Rede. Es besitzt eine Reihe von interessanten Eigenschaften – ein großes Potential.

Für eine fast nicht vorhandene Atomlage ist das Material ziemlich fest. Es ist biegsam, undurchlässig für Flüssigkeiten und Gase, härter als Diamant und sogar 125mal zugfester als Stahl. „Natürlich immer bezogen auf die Dicke der Graphenschicht“, zerstört Max Lemme direkt die sich aufdrängende Vorstellung von Alien-Technologie aus der Festung der Einsamkeit. „Graphen ist wie jede Struktur dieser Art eigentlich sogar sehr zerbrechlich.“

Flexible Smartphones

Einfach Graphen anfassen und schauen, ob es wirklich so durchsichtig wie Glas ist – das geht nicht. Entsprechend arbeitet Lemme in seinem Siegener Labor nicht mit der Hand und Graphen-Blättern oder wie auch immer sich der Alltagsverstand den Umgang mit diesem Material vorstellt.

Er nutzt runde Scheiben („Wafer“) aus Silizium, wie in der Halbleiterindustrie üblich. Auf ihnen befindet sich eine Schicht reines Graphen. Lemme geht wie jeder Forscher vor: Er experimentiert, misst, probiert allerlei Varianten aus und ermittelt, wie Graphen auf Elektrizität reagiert oder mit anderen Werkstoffen zusammenarbeitet.

So könnte ein flexibles Smartphone mit Graphen-beschichtetem Display aussehen © bonninturina - Fotolia.com
So könnte ein flexibles Smartphone mit Graphen-beschichtetem Display aussehen © bonninturina – Fotolia.com

Ein möglicher Anwendungsbereich sind Touchscreens von Mobilgeräten. Science-Fiction-Fans kennen das aus dutzenden Filmen: Ein eher schmales Mobiltelefon, aus dem am Rand ein flexibles und recht großes Touchscreen-Display herausgezogen wird. Vorher war es aufgerollt im Inneren des Gerätes.

Mit Graphen rückt ein solches Gerät in greifbare Nähe. Die Schicht des Materials arbeitet als ultraleichte „Touch-Folie“ und könnte zusammen mit einem biegsamen Display zu einer Art aufrollbarem Smartphone werden. Auch für Displays kann Graphen nützlich sein, denn damit sind sehr große, aber trotzdem leichte Touchscreens im Leinwandformat möglich.

Eine andere Idee, der Lemme und seine Kollegen aus der Graphen-Forschung nachgehen: Graphen könnte in Kombination mit herkömmlichen Silizium-Schaltkreisen zu einer erweiterten Funktionalität führen. So ist es denkbar, Computerchips mit Graphen-Sensoren auszustatten oder kostengünstig um „Wireless“-Fähigkeiten zu erweitern.

Ebenso könnte Graphen mit Hilfe eines Druckers auf einem Trägerstoff ausgegeben werden, so dass zum Beispiel die leitfähigen Schichten für Schaltkreise damit ausgedruckt werden können. Welche dieser und einer ganzen Reihe anderer Anwendungen sich letztendlich in der Praxis durchsetzen wird, ist noch offen. Aber es wird viel geforscht, auf der ganzen Welt, an Universitäten und in Unternehmen.

So ist beispielsweise auch Samsung sehr aktiv in der Graphen-Forschung. Und die Europäische Kommission hat kürzlich ein riesiges Verbundprojekt aufgelegt, bei dem in den nächsten Jahren eine gute Milliarde Euro für die Forschung an und mit Graphen ausgegeben wird.

Profitabler Anlagenmarkt

„Die anwendungsorientierte Forschung zu Graphen erfordert noch viel Arbeit“, meint Lemme mit Blick auf seine Kooperation mit Infineon und anderen Unternehmen. Es sei denkbar, dass von den vielen Möglichkeiten letztlich nur wenige übrig bleiben. Lemme ist die Medienpräsenz des Stoffes etwas unheimlich, denn sie weckt Erwartungen, die der Realität vielleicht nicht standhalten – diese Möglichkeit gibt es in der Wissenschaft immer.

Zugespitzt ausgedrückt: Graphen kann ähnlich wie die Kohlenstoffnanoröhre vom umjubelten heiligen Gral der Materialforschung zur Randexistenz abstürzen. Der Hype um Graphen ist zwar gigantisch, doch dahinter verbirgt sich bereits jetzt ein Markt, allerdings ein winziger.

Eine Anlage für die Graphen-Herstellung © AIXTRON
Eine Anlage für die Graphen-Herstellung © AIXTRON

„Unsere Anlagenverkäufe sind zuletzt deutlich gestiegen und haben sich zu einem profitablen Geschäft entwickelt“, sagt Prof. Dr. Michael Heuken, Leiter der Forschungsabteilung von AIXTRON, einem weltweit führenden Anbieter von Beschichtungsanlagen für die Halbleiterindustrie. Das Unternehmen aus Herzogenrath bei Aachen ist einer der wenigen Lieferanten von Industrie- und Forschungsanlagen, die Graphen-Wafer in größeren Mengen produzieren können.

„Als Anlagenhersteller profitieren wir von so einer Entwicklung natürlich in einem sehr frühen Stadium“, sagt Heuken und schränkt ein: „Allerdings entspricht das derzeit noch einem sehr kleinen Teil unseres Gesamtumsatzes.“ Eines ist jedoch sicher: Wenn sich der Markt so entwickelt, wie das die Teilnehmer am EU-Projekt und alle anderen Graphen-Fans sich vorstellen, spielen die Maschinenbauer aus dem Rheinland in vorderster Linie mit.

Zur Zeit handelt es sich für das mittelständische Unternehmen um eine Wette auf die Zukunft: Es baut einerseits Knowhow in einer möglichen Erfolgsbranche auf. Andererseits bildet es einen kleinen Kundenstamm in Universitäten und Forschungsabteilungen. Der kann sich aber jederzeit erweitern. Wenn Graphen ein Hit wird, landen viele Mitarbeiter aus der Forschung als Manager in der produzierenden Industrie und bestellen vielleicht lieber in Herzogenrath als anderswo.

Graphen mag ein Wundermaterial sein, doch das ist erst der Anfang. Wird es ein Erfolg? Und wenn ja, in welchem Einsatzgebiet? Das EU-Projekt begeht nicht den Fehler, sich auf einen einzelnen Bereich zu stürzen. So relativiert sich dann auch die gigantisch wirkende Milliarde, die über 10 Jahre hinweg an 75 Forschergruppen in 17 EU-Ländern verteilt wird.

Konzerne wie Samsung dagegen forschen deutlich enger gefasst an ganz bestimmten Anwendungen. Der koreanische Elektronikriese setzt auf Graphen, da es eine Lösung für biegsame Smartphones ist. Ein Erfolg würde seine Position im Smartphone-Markt auf Jahre hinaus zementieren.

Auch hier wieder die bei innovativen Unternehmen typische Wette auf die Zukunft. Entscheidend für die europäische Wirtschaft ist, rasch Top-Anwendungen von den Flops zu trennen und dann zu verhindern, dass die entsprechenden Produkte für Endanwender woanders hergestellt werden.

Bilder: © Kumbabali – Fotolia.com, © ogwen – Fotolia.com, © bonninturina – Fotolia.com, © AIXTRON

Claas: 100 Jahre Wandelbarkeit

„Nur innovative, bewegliche Unternehmen bestehen langfristig und bleiben keine kurzlebigen Episoden“, meint Dr. Jens Möller, Geschäftsführer von Claas Agrosystems. Dieses Jahr wird die Class-Gruppe 100 Jahre alt. Doch im Interview mit „Digital Heartland“ geht es nicht um alte Geschichten, sondern um Lektionen aus der Geschichte für die Zukunft.

Herzlichen Glückwunsch, Herr Möller. Claas ist dieses Jahr 100 Jahre alt geworden. Die übliche Frage an Hundertjährige lautet ja immer: Wie wird man so alt? Also, mit welchem Trick überlebt ein Unternehmen ein ganzes Jahrhundert?

Der Trick sind die ständige Innovation und das „immer in Bewegung bleiben“. Nur innovative, bewegliche Unternehmen bestehen langfristig und bleiben keine kurzlebigen Episoden. Bei Claas sind Innovation und Technologieführerschaft Teil der Strategie. Im Grunde gehört das zu unserer Firmenkultur, die wir sehr intensiv pflegen. Ein rein formelles Innovationsmanagement reicht nicht aus. Wer ein Neuerer sein will, muss hervorragende Mitarbeiter haben, die komplexe Aufgaben bewältigen können. class-maehdrescher

Die Mitarbeiter sind die wichtigste Voraussetzung für Innovationen?

Ja, wir hören auf die Mitarbeiter. Jeder kann Anregungen und Projektvorschläge abgeben. Jede Idee wird gehört, an allen Standorten. Die Prozesse für die Produktentwicklung sind überall gleich. Ein etabliertes betriebliches Vorschlagwesen stellt sicher, dass viele wertvolle Ideen zusammenkommen. Das sind nicht immer neue Produkte, auch viele Verbesserungen unserer Fahrzeuge stammen aus der Belegschaft, zum Beispiel aus dem Kundendienst.

Sie orientieren sich also auch an den Kunden?

Nicht nur das: Wir hören auf unsere Kunden und kennen ihre Bedürfnisse. Wir laden Kunden zu Hintergrundgesprächen ein, in denen sie auch Kritik üben dürfen. Unsere Entwickler fahren oft zu einzelnen Kunden und schauen sich die Situation vor Ort an. Sämtliche Produktmanager sind ausgebildete Landwirte mit dem notwendigen Wissen. So haben wir zum Beispiel einen Mähdrescher mit einer Straßenzulassung für 40 km/h eingeführt. Das Produkt ist speziell auf Lohnunternehmer zugeschnitten. Die fahren auf dem Weg von einem Kunden zum anderem häufig relativ lange Strecken über die Straße und sparen somit Zeit und Geld.

Mähdrescher sind ja die klassischen Claas-Landmaschinen. Aber Sie haben auch Informationstechnologie im Angebot.

Ja, inzwischen sogar sehr viel. Claas Agrosystems ist in der Claas Gruppe für Precision Agriculture verantwortlich Wir entwickeln zum Beispiel die Telemetriesysteme. Ein großer Trend sind Assistenzsysteme, ähnlich wie bei einem Auto. Dazu gehören in erster Linie Systeme zum so genannten „Precision Farming“. Dabei wird ein Fahrzeug mit Hilfe von GPS auf einige Zentimeter genau gesteuert. Das hört sich im ersten Moment etwas übertrieben an, aber auf eine große Fläche gesehen gibt es eine enorme Leistungssteigerung und Kostensenkung. Das lässt sich am besten in einem Beispiel verdeutlichen. Moderne Mähdrescher haben Schneidbreiten bis 12 Meter. Das bedeutet: Der Fahrer sitzt sechs Meter von den Seiten seines Fahrzeugs entfernt. Das präzise Lenken und gleichzeitige Bedienen der Maschine ist nicht einfach. Damit nichts stehen bleibt, fährt der Fahrer also immer mit ein wenig Versatz. Das können aber schon mal ein halber bis ein Meter sein, also auf ein Dutzend Runden leicht eine volle Fahrzeugbreite. Mit GPS beträgt der Versatz nur ein paar Zentimeter, der Fahrer spart somit Zeit und Kraftstoff.

Das hört sich aber kaum noch nach Ackerbau an. Ist ein Landwirt heute eher Techniker als Bauer?

Er ist ein ausgebildeter Profi in der modernen, von klassischer Landmaschinentechnik und Informationstechnologie unterstützten Landwirtschaft. Der Bauer mit Gummistiefel und Mistforke, der nur mit Schlepper und Hänger auf die Acker fährt – das ist ein reines Medienphänomen. Vor allem Sendungen, die auf dem Land spielen, transportieren oft ein vollkommen veraltetes Bild von der Landwirtschaft. Extrem viele Betriebe nutzen modernste Technik und lassen sich von IT-Managementsystemen unterstützen.

Aber lohnt sich das überhaupt für viele Landwirte? Sind nicht Riesenbetriebe notwendig, um solche Systeme zu nutzen? claas-traktor2

Moderne Großmähdrescher oder -traktoren benötigen eine gewisse Mindestfläche. Außerdem sind sie natürlich im Vergleich zu einfacheren Fahrzeugen teurer, aber bei einer großen Fläche lohnt sich das. Entsprechende Agrarbetriebe haben wir in Deutschland eher in den neuen Bundesländern Die Maschinen werden aber auch in Maschinenringen oder von Lohnunternehmern eingesetzt. Dadurch entstehen dann wieder ausreichend große Flächen, die mit einem Großgerät sehr effizient bewirtschaftet werden können.

Wie sieht das in anderen Ländern aus? Sind Ihre Innovationen auch weltweit anerkannt?

Wir sind inzwischen ein globales Unternehmen, aber mit deutschen Wurzeln. Die Claas Gruppe macht in Deutschland nur noch etwa ein Viertel ihres Umsatzes. Diese Internationalisierung ist eigentlich nichts Neues, wir haben uns schon immer stark auf den Export ausgerichtet. Allerdings agieren wir heute anders. Wir gehen als Unternehmen in die Großregionen wie etwa Russland und treten dort als Anbieter in diesem Markt auf. Unsere Produkte unterscheiden sich nach den Zielmärkten, denn jeder Markt ist anders. Ein gutes Beispiel ist Indien. Als wir vor 25 Jahren dort eingestiegen sind, haben wir uns die Situation vor Ort genau angeschaut. Wir haben zum Beispiel bemerkt, dass die Betriebsgrößen relativ klein sind und dort – wenn überhaupt Maschinen eingesetzt werden – Lohnunternehmer die Mähdrescher nutzen. Dabei haben wir recht schnell festgestellt, dass wir keinen geeigneten Mähdrescher im Angebot haben. Also haben wir einen entwickelt. Auf diese Weise kommt ein Unternehmen auch in einen neuen Markt. Erst werden die Grundbedürfnisse der Kunden analysiert, dann wird etwas Spezifisches und Neues gebaut. Anders kommen Sie dort nicht an.

Solche Erfolge wünschen sich viele Unternehmen. Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptgründe für den dauerhaften Erfolg von Claas?

Es gibt zahlreiche Gründe, aber sehr wichtig sind sicher Ausdauer und Schnelligkeit. Das kann im Grunde nur ein inhabergeführtes Unternehmen leisten, das nicht an die Berichtspflichten eines börsennotierten Unternehmens gebunden ist. claas-traktor1Den Xerion, ein so genanntes Systemfahrzeug mit Allradlenkung und -antrieb, gleich großen Rädern und drehbarer Kabine, hätte ein solches Unternehmen sicher nicht auf den Markt gebracht. Aber im Unternehmen gab es Helmut Claas, der die nötige Ausdauer hatte und das Projekt zum Erfolg geführt hat.

Ist also eine gewisse Ausdauer das Geheimnis der Innovation?

Nicht nur. Ein Unternehmen braucht viele gute Ideen und Offenheit auch für exotische (unkonventionelle) Vorschläge. Aber gute Ideen alleine reichen nicht. Irgendwann kommt ein Punkt, an dem es schwierig wird bei der Entwicklung eines Produktes. Der kommt oft. Da ist es gut, wenn an entscheidender Stelle Mitarbeiter mit Erfahrung sitzen und die Lösung weiter vorantreiben.

Wie die Namensgeber des Unternehmens?

Ja, zum Beispiel. Familienunternehmen sind in der Regel sehr langfristig orientiert. Es herrscht da eher die Vorstellung, dass der Unternehmenswert auf lange Sicht erhalten bleibt und gesteigert wird. Ein guter Weg dorthin ist Innovation und Wandelbarkeit, um sich rasch ändernden Märkten und Kundenanforderungen anzupassen. Der deutsche Mittelstand ist ein wesentlicher Innovationstreiber in der Wirtschaft und das sind sehr häufig Familienunternehmen wie die Claas Gruppe.

At first glance, the Claas group has little to do with the industries of the future. Most people know the company from agriculture: The paradigmatic Claas combine harvesters are known worldwide. And it is somewhat the counterpart to a VC driven startup eager for an multi million exit. Class is 100 years old, not public but family owned, and residing in the rural lowlands north of the Ruhr Area. But from the beginning Claas was an innovative company – new agricultural machinery, new techniques, new markets. The shareholders have built up an export-oriented, global company, where about 75 percent of revenue is made outside of Germany today. And they take the next step: Claas Agrosystems is developing its own telemetry systems. Similar to cars, assistance systems are a big thing in agriculture. They are primarily meant for precision farming. Here, a vehicle using GPS is accurately controlled to a few centimeters. „Only innovative, moving companies are long term“, says Dr. Jens Möller, CEO of Claas Agrosystems. Family owned, often midsized companies like Claas are a key driver of innovation in german economy. „Leadership in innovation and technology is part of our strategy. Basically, this is our company’s culture and we maintain it very intense.“

Jeder kann zum Innovator werden

„Innovationen ausschließlich über Innovationsabteilungen und -spezialisten zu fördern, ist der falsche Ansatz“, meint Stephan Grabmeier, Berater für Social Business und Gründer der Innovation Evangelists im Interview mit „Digital Heartland“. Er war von 2009-2013 Head of Culture Initiatives bei der Deutschen Telekom AG, leitete dort das Center of Excellence Enterprise 2.0 und beschäftigte sich mit dem Thema „Crowd Innovation“. Seine wichtigste Aufgabe: Netzwerkstrukturen aufbauen.
 

csm_20090520_Grabmeier_046_4cca20476dAlle sprechen von Innovation. Ist der Begriff nicht schon abgenutzt?

Stimmt, in den Unternehmen ist dauernd von Innovation die Rede. Es steht als extrem wichtiges Thema auf der Tagesordnung, denn alle Unternehmen müssen immer schneller Neues wagen, um im Markt bestehen zu können. Trotzdem geraten heutzutage auch große Unternehmen sehr schnell ins Hintertreffen. Marktführerschaft ist schon lange keine Garantie mehr – siehe Nokia oder Kodak.

Das geht sehr schnell und wenn nach Fehlern gesucht wird, stellt man fest, daß nicht radikal genug innoviert wurde. Aber in der Praxis ist nicht so ganz klar, wo die Neuerungen herkommen sollen. Die Frage lautet: Wo und wie schnell findet Innovation zukünftig statt? Handelt es sich um Forschung und Entwicklung? Oder brauchen Unternehmen eine eigene Innovationsabteilung? Oder eine ganz andere Lösung?

Was empfehlen Sie Unternehmen?

Die herkömmlichen Wege zur Innovation reichen bei weitem nicht mehr aus. Meiner Meinung nach kann die Basis von Innovation nicht breit genug sein. Das bedeutet: Alle Mitarbeiter im Unternehmen müssen eine Chance haben, gute Ideen vorzuschlagen und Ihr Know-how einzubringen.

Was ist mit dem mittleren Management? Scheitern dort nicht die meisten Ideen von den sprichwörtlichen einfachen Mitarbeitern?

Das ist leider oft so. In großen Organisationen ist das eine typische Folge von Mechanismen der Existenzsicherung. Innovation hat nämlich zwei Seiten: Zum einen kannibalisiert radikale Innovation auch das Kerngeschäft. Der evolutionäre Ansatz reicht nicht aus, die Weiterentwicklung bestehender Geschäftsbereiche ist auf Dauer meist zu wenig. Zum anderen verändert Innovation die bestehende Organisation und wird deshalb von vielen Leuten, auch von Führungskräften verhindert.

Und wie kann diese Verhinderungsstrategie abgewendet werden?

Meiner Erfahrung nach gibt es zwei sehr wichtige Blickrichtungen: Nach außen und nach innen. Unternehmen sollten einerseits passende Innovationen von außen herein holen und andererseits „Intrapreneure“ fördern, also Angestellte mit guten, marktfähigen Konzepten. Das Unternehmen ist also offen für Anregungen und Ideen von außen, aber auch von allen Mitarbeitern.

Unternehmen, die Innovationen nur in ihrem Kernbereich hervorbringen wollen, werden in Zukunft scheitern. Besonders Konzerne reagieren auf Veränderungen im Markt nicht schnell genug. Die umfangreichen Prozess- und Genehmigungsstrukturen sind ein großes Hindernis, in dem viel Energie verschwendet wird. Märkte sind flexibel, Unternehmen sind es leider nicht.

Wie sind ihre Erfahrungen mit der Telekom? Das Unternehmen ist ja einer der größten Konzerne Europas und sie haben dort die Transformation zu Enterprise 2.0 verantwortet.

Vor meiner Telekom Zeit war ich selbstständig als Organisationsentwickler tätig. Ich habe sowohl für kleine wendige Start-Ups oder Investoren als auch für große Konzerne gearbeitet. Die Telekom hat ja einen gewissen Ruf als bürokratisches Monster, so dass viele Bekannte meinten: Das klappt nie. Und ich sage Ihnen was: Das hat sehr gut geklappt, ich konnte absolut selbstständig arbeiten – im Prinzip wie ein Unternehmer oder vielmehr wie ein Intrapreneur. Der CEO René Obermann und der ehemalige Personalvorstand Thomas Sattelberger waren die Sponsoren unseres Programms.

Sie hatten den klangvollen Titel „Head of Culture Initiatives“. Ist das programmatisch zu verstehen?

Unbedingt. In vielen Unternehmen wie der Telekom ist ein kultureller Wandel nötig. Sie müssen mit sämtlichen Mitarbeitern arbeiten und sie einbinden und das geht am besten mit Sozialen Netzwerken. Mit ihnen ist das sogar mit einigermaßen geringem Aufwand und trotzdem strukturiert möglich, denn sie erlauben einen offenen, nicht-hierarchischen Austausch über Ideen und Konzepte.

Es gibt in der Telekom viele Leute mit tollen Einfällen, die über interne crowdbasierte Technologien wie z.B. JAMs, Prognosemärkte oder das Telekom Social Network eine Stimme und Sichtbarkeit bekommen. Meine Erfahrung nach gibt es genug Ideen, nur haben die Leute entweder nicht die Chance, die Risikofreudigkeit oder das Kapital, diese Ideen auch umzusetzen. Gepaart mit den Ressourcen der Telekom sieht das dann schon wieder anders aus.

Wie werden die Ideen umgesetzt?

Das wichtigste – einfach und schnell. „Lean Start-Up“ ist eine Methodik, die sehr schnell in die Umsetzung geht, Kunden so früh wie möglich mit einbezieht und über Prototypen die ersten Versuche im Markt macht. Wenn in einem Konzern noch mühevoll Powerpoint-Schlachten für Gremien gemacht und Businesspläne schön gerechnet werden, können Sie mit den richtigen Leuten und Methoden bereits an ersten Prototypen arbeiten und Geschäftsmodelle umsetzen. Business Modelling hat sich massiv verändert. Es ist wichtig, dass das in großen Unternehmen ankommt – denn heutzutage frisst der Schnelle den Langsamen!

Und wie funktioniert das in einem großen Unternehmen oder einem Konzernriesen wie der Telekom?

Innovationen sind Chefsache und sollten daher möglichst beim CEO verankert werden. Es darf keine Zwischenschicht geben, wenn Ideen und Innovationen nicht in einer starren Prozessstruktur stecken bleiben sollen. Viele Innovationsinitiativen sind reines Experimentieren, das nicht in die Performance-Logik eines tradierten Managements passt. Erfolge in Innovation lassen sich in den frühen Phasen nicht mit den herkömmlichen Methoden der Quartalsmessung ermitteln.

Natürlich ist der hierarchische Aufbau eines Konzerns nicht sinnlos, er bietet stabile Strukturen für Entscheidungen. Was heute oft fehlt sind Netzwerkstrukturen, die Innovationen deutlich besser fördern. Die entsprechenden Strukturen haben mein Team und ich für die Deutsche Telekom aufgebaut.

Die Telekom muss in Zukunft neue Innovationsstrukturen mit neuen Haltungen und Skills füllen. Konzernmenschen sind häufig keine Unternehmer. Die Telekom muss deshalb sowohl Leute von außen in den Konzern holen, die eine Startup-Mentalität mitbringen als auch intern weiter Intrapreneurship fördern und ausbauen. Auch im Inneren muss eine Gründerkultur aufgebaut und gepflegt werden. In einem solchen Unternehmen kann jeder zum Innovator werden.

Bildquelle: Privat

The base for innovation in an enterprise needs to be as broad as possible, says Stephan Grabmeier, social business consultant and founder of Innovation Evangelists to „Digital Heartland“. He was Head of Culture Initiatives and leader of the Center of Excellence Enterprise 2.0 at the biggest german telco Deutsche Telekom AG. Grabmeier is a networker at heart – he likes to connect the dots for intra-corporate social networks.

He suggest social networks as a platform for growing new, innovative ideas. Everyone can provide and discuss thoughts und concepts – even the legendary „normal worker“. But new ideas should not only come from the inside. A real innovative corporation also takes pre-startup enterprises into account. Founders with experience in garage tinkering can enhance the business models of big corporations by avoiding the hassle with approvals and business process conformity.

Big Business seeking for innovation should go off the beaten tracks of Powerpoint combats and canonical management strategies, thinks Grabmeier. His strategie is called „Lean Start-Up“ and shortens time to market for new products or services. It seeks advice from the potential customers and puts some prototypes in position – as early as possible. This is crucial for big corporations because faster enterprises will eat the slow ones.

Der Wind über den Wäldern

nrw-windkraftIn Nordrhein-Westfalen gehören Windparks inzwischen zum allgemeinen Landschaftsbild: Gut 3180 Megawatt Strom werden damit an windreichen Tagen erzeugt. Das klingt nach viel, reicht aber nicht an die Leistung klassischer Kraftwerke im Rheinland heran. So hat zum Beispiel das Braunkohlekraftwerk Neurath bei Grevenbroich gute 4400 Megawatt Kapazität.

Der Vergleich ist ein wenig fies, denn Neurath ist das zweitgrößte Kraftwerk seines Typs in Europa. Besser wäre ein Vergleich mit dem Flächen- und Flachland Niedersachsen. Hier werden im Idealfall – sturmfest und erdverwachsen – sagenhafte 7337 Megawatt erzeugt. Der Abstand zwischen den beiden Ländern spiegelt ein wenig die Geografie wieder, im Rheinland beginnt das nordeuropäische Tiefland zwar, doch Niedersachsen liegt größtenteils mittendrin.

Allerdings: Eine Studie des Fraunhofer-Instituts für Windenergie und Energiesystemtechnik (IWES) ergab, dass die Ausbeutung der Windkraft innerhalb Deutschlands nicht einmal ansatzweise ausgereizt ist. Theoretisch ließen sich 13,8 Prozent der Flächen in Deutschland für Windenergie nutzen – ohne Probleme mit Natur- und Lärmschutz. Auch wenn es ein wenig nach Milchmädchen klingt: Die höchstmögliche Kapazität dieser Anlagen läge bei 1190 Gigawatt und der Ertrag bei 2,9 Millionen Gigawattstunden Strom.

Zum Vergleich: Die erreichbare Strommenge wäre fünfmal so groß wie der Stromverbrauch 2012. Klingt phantastisch und ist es auch, denn vermutlich würde bei Verwirklichung des Szenarios ein Aufstand der Wutbürger folgen – Stichwort „Verspargelung der Landschaft“. Die Studie ist also weniger als Handlungsanweisung, denn als dringende Mahnung zu verstehen. Bislang setzen viele Windenergiebefürworter in der Politik ja auf die scheinbar unproblematischen (weil bürgerfernen) Offshore-Anlagen weit, weit draußen auf See.

Da die Küstenzonen in NRW sich auf die Ränder einiger größerer Talsperren beschränken, setzt das Land seit ein paar Jahren auf den Ausbau der Onshore-Windparks. Speziell für NRW gibt es eine Studie, in der die Möglichkeiten etwas genauer ausgelotet werden. Sie zeigt eine ähnliche Tendenz wie die Fraunhofer-Studie: Machbar sind hier pro Jahr 71 Terawattstunden, etwa das Doppelte des privaten Stromverbrauchs in NRW. Das entspricht Windparks mit gut 30 Gigawatt Leistung auf etwa 3,3 Prozent der Landesfläche.

anteil-ee-stromDie Landesregierung möchte sogar noch weiter gehen. O-Ton aus dem Umweltministerium: „Um die Ausbauziele bei der Windenergie zu erreichen, müssen auch auf Waldflächen neue Vorranggebiete erschlossen werden. Der Grundstein für eine intensivere Nutzung ist bereits gelegt: Die technische Entwicklung hat neue Anlagentypen hervorgebracht, die mit Nabenhöhen von mehr als 100 Metern Höhe auch die turbulenzarmen Zonen über den Baumkronen unserer Wälder nutzen können.“

NRW hat nach Ansicht von Politik und Verwaltung mehr als genug grundsätzlich geeigneter Waldflächen, nämlich die etwa 348.000 Hektar Nadelwald außerhalb von Schutzgebieten – der klassische Nutzwald für die Herstellung von Papier, Bau-, Möbel- oder Brennholz. Das Ministerium geht davon aus, dass sich (nur) etwa drei Prozent dieses Bestandes wirklich eignen, so dass eine Anlagenleistung von wenigstens 6200 Megawatt darauf aufgebaut werden kann – gut zweimal so viel wie aktuelle Gesamtleistung im Land.

Bildquelle: Erich Westendarp / pixelio.de
Karte: Bundesumweltamt, eigene Bearbeitung
Diagramm: Bundesumweltamt

Wind energy is a big thing in Germany and also in North Rhine-Westphalia. 3180 megawatts are installed and the region ranks fourth in whole Germany. The countries secretary for the environment, Johannes Remmel, would like to push it to the front. His staff has compiled a survey of all areas that qualify for wind turbines. The result: 3,3 per cent of the countries land area can be used for a power capacity of 30 gigawatts. If some woodland is also used the result will be 36 gigawatts or more.