Die Gigafactory IV kommt

Der Chuck Norris der Tech-Branche hat zugeschlagen:

Was wirklich passiert ist: Elon Musk hat höchstpersönlich den Preis einer Autozeitung entgegengenommen, für das Model 3. In einem Nebensatz verkündete er, dass die Gigafactory 4 bei Berlin, auf der grünen Wiese in Brandenburg gebaut wird. Etwas später präzisierte Musk dann per Twitter: Dort werde unter anderen das Model Y gebaut und Ende 2021 soll es mit der Produktion losgehen. Von etlichen tausend Arbeitsplätzen war die Rede und tatsächlich sind bereits Stellenausschreibungen für Brandenburg auf der Tesla-Website zu sehen.

Eine Bauzeit von zwei Jahren ist recht optimistisch, schließlich sind wir hier nicht in China. Dort betrug die Bauzeit der Gigafactory 3  gut zehn Monate. Im Moment beginnt dort der Produktionstest für das Model 3 und möglichst schnell soll die Massenproduktion für den chinesischen Markt anlaufen. Doch Elon Musk wird sich der deutschen Eigenheiten bewusst sein. Darauf weist auch das milde Lächeln bei dem Satz hin, dass seine Fabrik ein wenig schneller als der Berliner Flughafen eröffnet werden müsse. Das mag so sein, wenn die Politik ihre Hausaufgaben gemacht hat. Es ist sicher sinnvoll, dass der nicht mit Industrieansiedlungen verwöhnte Flächenstaat Brandenburg ein möglichst rasches Genehmigungsverfahren für den Bau anstrebt.

Jenseits der Bedenkenträgerei

Eine Industrieansiedlung in dieser Größe, noch dazu im Einzugsbereich von etlichen Bundesländern mit hoher Arbeitslosigkeit, sollte eigentlich Grund für Euphorie sein. Doch eine typisch deutsche Reaktion kommt sofort: Zynismus. Das“Goldene Fass“ in diesem Genre gebührt dem Journalistenkollegen Stefan Laurin. Er verbreitete bereits wenige Stunden nach der Preisverleihung über Facebook eine dystopische Entwicklung, die er später noch ausmalte:

Vielleicht schon heute werden sich die ersten Bürgerinitiativen gegen den Bau gründen. Umweltverbände, die gegen die Fabrik klagen, werden sich ebenfalls finden. Irgendein Käfer, den heute noch niemand kennt und der für das Überleben von Grünheide und für Mutter Erde von existenzieller Bedeutung ist, wird sich schon finden. Und dann sind da noch das Klima, die Bodenversiegelung, die Lärmbelastung durch die Fabrik, die Belastungen bei ihrem Bau, die Gentrifizierung durch den Zuzug von Ingenieuren, die Ausbeutung der Tesla-Arbeiter, der Kapitalismus und irgendwas mit Frieden. […]

Musk weiß nicht, worauf er sich eingelassen hat: In fünf Jahren, wenn er vor einem Oberverwaltungsgericht um die Genehmigung des Baus der Abbiegespur kämpft, die dafür nötig ist, dass er die Zufahrtsstraße bauen darf, die zu dem bis dahin längst besetzten Grundstück führt, auf dem irgendwann seine Fabrik entstehen soll, wird er den gestrigen Tag verfluchen.

Quelle: Die Salonkolumnisten

Leider habe auch ich den erfahrungsgesättigten Eindruck, dass Laurin nicht ganz falsch liegt und dieses ziemlich düstere Szenario nicht vollkommen unwahrscheinlich ist. [Update 16.11.2019 10:40] Die ersten Anti-Tesla-Truppen ziehen sich zusammen.

So ist es also: Wir haben uns an die Unbeweglichkeit unserer Gesellschaft und unseres Staates, an die Technikfeindlichkeit vieler Leute, an das ewige Genörgel, die dauernde Bedenkenträgerei, die elende Suche nach dem Haar in der Suppe schon so gewöhnt, dass wir direkt mit Zynismus reagieren. Wir halten es für wahrscheinlich, dass hier eine neue Investitionsruine entsteht, ein neuer Sarg für Steuermilliarden – als Folge einer unübersichtlichen Gemengelage aus Partikularinteressen, gesetzlichen Regelungen und der Not-In-My-Backyard-Mentalität mittelalter Nörgelbürger aus Anti-Windkraft-Vereinen. OK, Boomer.

Jenseits des Zynismus

Neben dem brandenburgischen Ministerpräsidenten freut sich immerhin der Elektroauto-Unternehmer Günther Schuh über die Initiative von Elon Musk.

Tatsächlich ist die Entscheidung für Deutschland logisch: Hier gibt es jede Menge erfahrene Leute vom Facharbeiter bis zum Ingenieur, Synergien mit deutschen Mittelständlern aus Maschinenbau und Automatisierungstechnik und es ist denkbar, dass ein Tesla „Made in Germany“ ein europaweiter Verkaufsschlager wird.

Außerdem gibt es gerade in Deutschland viele kaufkräftige SUV-Fans, an die sich das Modell Y in erster Linie richtet. Es ist recht gut auf den deutschen und europäischen Markt zugeschnitten. Obwohl sich der Blick der SUV-Gegner immer auf Schlachtschiffe wie X7 oder Q7 richtet, verkaufen sich diese Brummer eher schlecht. Kompakt-SUVs dagegen sind die Autokategorie mit den größten Wachstumsraten – Elon Musk wird das berücksichtigt haben. (Am Rande bemerkt: Elon Musk ist das, was Rheinländer „positiv bekloppt“ nennen, also das völlige Gegenteil von dumm.)

Zum Schluss noch eine Auswahl an kritischen und begeisterten Kommentaren zur Gigafactory Berlin-Brandenburg:

Dass sich Musk ausgerechnet das Mutterland des Automobils als neuen Standort ausgesucht hat, spricht für das Selbstbewusstsein des Unternehmers. Er scheut nicht die Konkurrenz der etablierten deutschen Autobauer, er greift sie sogar unmittelbar an.

Don Dahlmann, Gründerszene

Musk macht in jüngster Zeit nicht mehr mit Eskapaden von sich reden, sondern mit Fortschritten im Geschäft. Tesla meldete gerade zum ersten Mal seit einigen Quartalen wieder einen Gewinn und gab dabei auch Anlass zur Hoffnung, profitabel bleiben zu können.

Roland Lindner, F.A.Z.

War Tesla für die deutschen Autobauer anfangs ein belächelter Gernegroß und alsbald ein ernstzunehmender Wettbewerber, dürfte sich die Sache jetzt umkehren.

Henrik Böhme, Deutsche Welle

Musk ist bekannt für seinen unermüdlichen Einsatz. Und den fordert er auch von seinen Leuten. Dabei ist ihm egal, ob es sich um Kolleginnen aus dem Topmanagement oder vom Fließband handelt.

Anne-Katrin Schade, Zeit Online

Spektakuläres Ende dieser Geschichte war, dass DeLorean beim Drogenschmuggel gefilmt wurde. Schließt sich hier ein Kreis zum Kiffer Elon Musk?

Kevin P. Hoffmann, Tagesspiegel

Gegen die Nacht

„Na?“ Ich erkenne Myriams leicht kehlige, ins Dunkle gehende Stimme sofort, auch um diese Zeit. In San Francisco ist es halb acht Uhr abends und ihre Schicht in der Cafeteria endet gerade. Dort gibt es nur ein Münztelefon, deshalb ruft sie mich kurz an und ich rufe zurück — eine Stunde Reden für 60 Mark. Es ist ein heißer Sommer mit einem leichten Schlaf. Ihre Stimme ist aufgekratzt, ein wenig triumphierend. „Ich habe es, eine Erstausgabe, im roten Umschlag.“

Sie atmet hörbar, von einem leichten Satellitenecho untermalt. Ich bin sofort hellwach. Thomas Pynchon. Gravity’s Rainbow. Die Enden der Parabel. „Jeder lange Haarschnitt ist eine Reise.“ Eine Echokammer und ein Assoziationsraum; mit Anspielungen auf alles und jeden; Kaskaden der Erinnerung an TV-Serien, Comics, Filmen und Büchern. „Herrje, du bist ja ganz ergriffen.“ Diesmal ist es ein amüsiertes Lächeln, das ich über die paar tausend Kilometer heraushören kann. Ich war wohl einen Moment ganz still. „Nächstes Jahr bringe ich es mit.“

Dann beginnt sie zu erzählen, wie jeden Abend und Morgen, an dem sie anruft. Sie erzählt von ihrem Jahr 1989 in einer fremden Welt, erzählt, dass Amerika wie ein Film ist und trotzdem ganz anders. „Ich muss dir was erzählen“, beginnt sie ihre Anrufe. Sie klingt jetzt heiser. Ein paar Wochen hat sie in ihrem Toyota Carina übernachtet, auf einer Reise durch den Westen. Doch der Wagen ist schon länger ihre Wohnung. Das Geld von der Cafeteria reicht nicht für die Mieten in der Bay Area.

Der Mann, mit dem sie zusammen ist; ein Deutscher, er lebt in einem Camper. Er ist in den USA hängen geblieben. „Vielleicht bleibe ich ja auch hier hängen.“ Sie hat eine Wohnung in Aussicht, ein winziges Zimmer in einer WG mit zwei Jazzmusikern. Sie wird mit ihnen Cajun-Gerichte kochen und ein nach New York klingendes Englisch sprechen.

Eine Frau ist ihr in den Carina gefahren. Ohne Versicherung bekommt sie nicht einmal den Schaden voll ersetzt. Aber am selben Abend lernt sie in der Cafeteria einen Anwalt kennen. Nach ein paar Monaten hat sie das Geld für den Wagen. „Das ist die amerikanische Art der Umverteilung.“ Myriam findet schnell Kontakt zu Menschen. Das Ehepaar, dessen Haus in Russian Hill sie zwei Wochen lang hütet, trifft sie auf der Lombard Street, als sie die Serpentinen hinaufläuft. „Sie haben gelacht und gemeint, ich könne nicht von hier sein.“

Wir gewöhnen uns an diese Gespräche, brauchen sie als intimes Ritual. Mein Leben ist geruhsam; ich studiere, schreibe Artikel für eine Lokalzeitung, besuche meine Großmutter und mache dort die Wäsche von zwei Wochen. Manchmal gehe ich aus und fast nie lerne ich Frauen kennen. Myriam erlebt jeden Tag einen Roman. „Die Gespräche helfen mir“, sagt sie eines Morgens. „Ich gebe dir meine Erlebnisse; wie einem Treuhänder. Du sollst mir später bestätigen, dass ich das wirklich alles erlebt habe.“

Myriam ruft manchmal ein paar Tage hintereinander an, dann wieder einige Zeit gar nicht. Ich warte auf den Anruf, schlafe unruhig, bis es soweit ist. Ich lebe im Nebel der Unausgeschlafenheit, bin erschöpft — von der Warterei, von den kurzen Nächten, vom konzentrierten Zuhören, vom Satellitenecho unserer Gespräche. Ihre Stimme klingt nah, wie in meinem Kopf. „Ich muss dir was erzählen.“ Manchmal höre ich sie mitten am Tag und drehe mich verwirrt um.

Es wird Herbst. Ich habe das Semester geschmissen und angefangen, im Altenpflegeheim zu arbeiten, dem Ort meines Zivildienstes. Meine Telefonrechnungen bezahle ich pünktlich am Postschalter, mit ein, zwei Hundertern in der Hand. Ich arbeite in der Frühschicht; mal in der Gerontopsychatrie, mal auf einer Pflegestation. Die Arbeit ist anstrengend und hektisch. Wenn ich mich von Myriam verabschiedet habe, dusche ich und fahre los.

Eines Abends im Oktober schalte ich meinen Fernseher ein. Ein schweres Erdbeben in San Francisco. Ich weiß, dass Myriam wieder mit ihrem verbeulten Carina unterwegs ist. Trotzdem kann ich in der Nacht nicht schlafen, hoffe auf einen Anruf. Um sechs Uhr melde ich mich im Altenheim krank; schlafe ein und werde vormittags durch das Telefon aufgeschreckt. Sie hat stundenlang Freunde angerufen, es immer wieder versucht, bis sie wusste: es ist niemand verletzt. „Es war anfangs nur ein dumpfes Grollen, hat Steven gesagt. Dann hat alles vibriert und gewackelt.“

Es ist fast Winter, als sie plötzlich von Deutschland hört. Sie ruft mich mitten am Tag an, es ist tiefe Nacht bei ihr. „Ich bin auf einer Party.“ CNN bringt den Mauerfall als Breaking News, zeigt die Leute, wie sie auf der Mauer tanzen und kleine Steinchen daraus schlagen. In Köln dauert es zwei Wochen, bis die ersten Trabante und Wartburge auftauchen. Eines Morgens dann der Anruf: „Ich komme zurück, nächste Woche.“

Myriam geht langsam durch die Menschen, blickt suchend um sich. Dann hat sie mich entdeckt. Sie strahlt, reißt die Handtasche hoch. „Da ist es drin.“ Dann gluckst sie, wirft ihre sonnenhellen Haare nach hinten und pustet die Strähne auf der Stirn nach oben. So, wie sie es schon immer getan hat, kräftig, mit leicht vorgeschobenem Unterkiefer. Es lässt Myriam trotzig aussehen. Ich lache. Wir schauen uns an.

(2008)

Bildquelle: Oscar Fernando Melo Cruz / Pixabay

北京折叠 – SF aus China

Die Bingobox verbreitet sich wie ein Virus. Kein Wunder, denn sie löst ein nerviges Alltagsproblem: Wer etwas einkaufen will, muss häufig Umwege in Kauf nehmen. Die Stadt wächst schneller als ihre Infrastruktur. Da ist ein Container mit einem automatischen Laden genau die richtige Lösung. Einfach hineingehen, dass Gesicht scannen lassen und dann einkaufen. Nudelpakete, Bambussprossen, vakuumiert verpacktes Geflügel – Kameras erfassen die Waren und rechnen sie über das Kundenkonto ab. Noch bequemer geht es nicht.

Nicht alle Probleme einer Megacity mit 80 Millionen Einwohnern sind so einfach zu lösen. Doch nach Jahren des Bauens ist es soweit: Man kann Peking falten. Es gibt nun drei Städte dieses Namens, jede wird regelmäßig in die Erde hinein- und später wieder herausgefaltet. Wenn ihre Zone weggefaltet ist, schlafen die Bewohner dank eines speziell dafür entwickelten Medikaments. Werden sie herausgefaltet, haben sie ein paar Stunden Zeit, um ihren Alltagsgeschäften nachzugehen. Dreimal Peking, dreimal Lebensraum für Millionen, dreimal eine boomende Stadt.

Chinesische Lösungen für Chinas Probleme

Beide Szenarien spielen in Chinas Hauptstadt. Das Pekinger Startup Bingobox bietet bereits seit einigen Jahren automatische Läden an, die sich in China rasch verbreiten. Der Grund: Die Städte in China wachsen und werden dauernd umgebaut. Mit einer Bingobox ist eine Vor-Ort-Versorgung schneller erreicht als durch Bau und Einrichtung eines herkömmlichen Supermarkts. Ein kleines Team aus Servicekräften hilft notfalls per Video-Chat. So können ein paar Leute Dutzende Bingoboxen überwachen. Für das Unternehmen ist das effizient und wenn die Umsätze nicht stimmen, kommt ein Kranwagen und versetzt den Laden an eine andere Stelle.

Eine prosperierende Megamillionenstadt wie Peking (oder Shanghai, Shenzhen, Guangzhou und andere) erfordert ungewöhnliche Maßnahmen. Die SF-Autorin Hao Jingfang hat sich hier in ihrer Erzählung „Peking falten“ etwas Spezielles ausgedacht: Um den städtischen Raum möglichst effizient zu nutzen, gibt es drei Sektoren, die sich platzsparend drehen, in der Erde versenken und zusammenfalten lassen. Nach einem strengen Plan wird immer nur ein Sektor entfaltet, damit die Menschen darin ihren Tätigkeiten nachgehen können.

Regierungsfunktionäre, wichtige Unternehmer und andere bewährte Bürger leben in Zone Eins, die für einen ganzen, 24-stündigen Tag herausgefaltet wird. Da zu dieser Gruppe nur fünf Millionen Personen gehören, haben sie mehr Raum zum Wohnen, Arbeiten und Erholen zur Verfügung. Die 25 Millionen Bürger der Mittelschicht leben in Zone Zwei, die 16 Stunden aktiv ist und Zone Drei – nun, das ist die Zone für die Unterschicht. Diesen 50 Millionen Einwohnern macht es ohnehin nichts aus, die meiste Zeit ihrer acht verfügbaren Stunden im Dunkeln zu verbringen.

Vor diesem Hintergrund entfaltet Hao eine Noir-Story: Der Müllarbeiter Lao Dao unternimmt einen abenteuerlichen Botengang von der dritten in die erste Zone – was eigentlich verboten ist, denn die Bewohner dürfen ihre Zone nicht verlassen. Die Story ist eine Dystopie, mit Kritik an patriarchalisch-autokratischen Politikansätzen, die eine Spezialität des chinesischen Staates sind. Doch die Geschichte erhebt sich nicht über ihren Protagonisten. Sie folgt ihm auf seinem Weg durch die Sektoren, weiß aber nicht mehr, als seine Perspektive zulässt. Die Ungleichheit des dreifachen Pekings wird gezeigt, aber nicht wie in einem politischen Pamphlet beklagt. 

Genau das macht die Eleganz der Story aus und genau das hat sie preiswürdig gemacht, so dass sie als zweite chinesische Autorin 2016 mit dem renommierten Hugo-Award für die beste Science-Fiction-Erzählung ausgezeichnet wurde. Im Jahr davor erhielt ihr Kollege Liu Cixin den Hugo-Award für den besten Roman. Ausgezeichnet wurde der erste Band seiner Trisolaris-Trilogie „Die drei Sonnen“ , der im chinesischen Original bereits 2007 erschienen ist. Seit dem Frühjahr ist die Trilogie auch vollständig auf Deutsch erhältlich.

Die Breite (und Größe) chinesischer SF

Hao Jingfang und Liu Cixin zeigen die Bandbreite der modernen Science-Fiction in China. Die Autorin ist zwar Physikerin und Betriebswirtin, interessiert sich aber wenig für technisch ausgerichtete Hardcore-SF. In ihrer Erzählung, aber auch in ihrem Roman „Wandernde Himmel“ stehen Motive, Handlungen und Erfahrungen ihrer Hauptfiguren im Vordergrund. Sie setzt sie Situationen aus, zu deren Bewältigung Aufmerksamkeit, Neugier und Offenheit für andere Denkweisen notwendig ist. So ist im Roman eine Jugendliche vom Mars die Hauptfigur, die als Botschafterin des guten Willens in ein irdisches College geschickt wird und nach einigen Jahren wieder zum Mars zurückkehrt. Ihre Erfahrungen erlauben ihr, die Perspektive der in eine politische Krise verwickelten Planeten Erde und Mars zu übersteigen und eine Lösung zu finden.

Liu Cixin ist von einer anderen Art. Am besten lässt es sich durch eine vossianische Antonomasie ausdrücken: Er ist der Isaac Asimov Chinas. Seine Weltentwürfe sind aufregend, kurzweilig, stark an der amerikanischen Pop-Kultur und deren Filmsprache geschult. (Nebenbei bemerkt: Chinesen kennen sich deutlich besser mit der westlichen Kultur aus als Westler mit der chinesischen.) Seine Trilogie beginnt mit den Exzessen der Kulturrevolution und endet mit dem Tod des Universums. Trotz des enormen Umfangs von (in der deutschen Übersetzung) rund 2.400 Seiten ist es kaum möglich, die Bücher aus der Hand zu legen – vom erschöpften Absinken in einem Fluss ohne Ufer kann keine Rede sein.

Der gigantische Weltentwurf von Liu trägt tatsächlich über diese lange Strecke. Das liegt an seinem enormen Ideenreichtum, seinen wissenschaftlich unterfütterten Überlegungen zu Technik und Gesellschaft und seiner erzählerischen Potenz. Das Werk von Liu erinnert an die weit ausgreifenden Erzählstränge älterer chinesischer Romane wie „Die Reise in den Westen“ von Wu Cheng-en oder „Die drei Reiche“ von Luo Guanzhong. Sie gehören zu den kanonisierten Klassikern der chinesischen Literatur und sind deshalb auch für heutige Autoren als Referenz verpflichtend – ähnlich wie Homer, Augustinus, Cervantes, Shakespeare oder die Bibel in der europäisch geprägten Literatur.

Das Universum als dunkler Wald

Es ist unmöglich, in wenigen Absätzen eine sinnvolle Zusammenfassung der Trilogie zu geben. Auf ganz oberflächlicher Ebene geht es um eine Auseinandersetzung zwischen Menschen und den außerirdischen Trisolariern. Sie sind über Radiowellen auf die Menschheit aufmerksam geworden. Ihre Reaktion: Sie senden eine Raumschiffflotte, um die Erde zu erobern und ihre unwirtliche Heimat zu verlassen. Auf einer tieferen Ebene geht es um die Auseinandersetzung zwischen Kulturen, die sich sehr fremd sind und sich in dieser Fremdheit weder verstehen, noch missverstehen, noch nicht-verstehen. Jede der beiden Kulturen macht sich ihr eigenes Bild vom jeweils anderen, doch es erweist sich immer wieder als falsch.

Das Trisolaris-Universum wird als dunkler Wald geschildert, voll mit Lebewesen, die nicht miteinander reden können, ja nicht einmal dürfen. Die schwachen und wenig bewehrten verstecken sich ängstlich in der Schwärze und geben keinen Laut von sich. Anderenfalls werden sie von gnadenlosen Raubtieren bemerkt und vernichtet. Doch auch diese dürfen keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, allzu rasch werden sie zur Beute von noch stärkeren Wesen. Darum ist es in unserer Galaxie so still. Darum gibt es so viele Planeten, von denen keine Signale zu hören sind. Darum ist es so gefährlich, einfach Radiowellen in die Gegend zu senden.

Eine optimistische Lösung der Drake-Gleichung würde bedeuten, dass wir bereits Kontakt mit Aliens haben oder sie uns zumindest beobachten. Es gibt einige Anhaltspunkte dafür, dass die Galaxie von Leben erfüllt ist, auch wenn es sich nur selten um intelligentes Leben handeln mag. So hat sich gezeigt, dass eine unglaublich große Zahl an Sonnen Planeten besitzt. So ist wenigstens ein Parameter der Drake-Gleichung mit einem hohen Wert belegt. Trotzdem ist es uns (jedenfalls bis jetzt) nicht gelungen, eine andere Zivilisation zu entdecken. Nach der Theorie vom dunklen Wald hat diese Ruhe nur zwei Erklärungen: Die außerirdischen Zivilisationen stellen sich tot, weil sie überleben wollen. Oder sie wurden bereits entdeckt und vernichtet.

Liu scheint eher an Möglichkeit Zwei zu denken. Sein Universum ist kalt und gefühllos; die Kälte der kosmischen Hintergrundstrahlung überträgt sich auf die Mentalität der Lebensformen. Zwischen ihnen gibt es keine Verständigung. Für die Vertreter der Superzivilisationen, die im dritten Band einen dimensionalen Zusammenbruch des Raums erzeugen und damit die gesamte Milchstraße vernichten, sind niedrigere Lebensformen so etwas wie Wanzen: Sie treten angewidert darauf. Was bleibt? Ein paar Menschen retten sich, reisen ans (räumliche und zeitliche) Ende des Universums und beobachten sein Verschwinden. Vielleicht eine tröstliche Botschaft: Das Individuum siegt, denn es bleibt bis zuletzt.

Der Mensch und sein Sozialraum: SF in China

Starke, eigenwillige, oft egoistisch agierende Menschen bringen die Geschichte in den drei Bänden voran. Auch in dem Roman „Die Siliziuminsel“ von Chen Qiufan ist der treibende Faktor die rebellische, unangepasste Individualität der drei Hauptfiguren. Da ist der Economic Hitman Scott Brandle, der nach langer Zeit im Westen auf die Siliziuminsel zurückgekehrte Chen Kaizong und die Wanderarbeiterin Mimi, die zu einem Software-Cyborg wird und den Aufstand der Müllmenschen anführt. Chen hat diese drei auf der Siliziuminsel abgekippt, zusammen mit einem Riesenhaufen Cyberschrott vom Exoskelett bis zum Hirnimplantat. Sein Buch schreibt die (von der chinesischen Regierung kürzlich unterbundene) Praxis der westlichen Länder fort, ihren Müll in China abzukippen. Er entwickelt wie Hao oder Liu keine positive, naive Vorstellung von der Zukunft, sondern eine Dystopie, die den Menschen enormes abverlangt.

In seinem Roman, aber auch allen anderen hier vorgestellten Geschichten kämpfen die Protagonisten den Kampf jedes Individuums: Die Auseinandersetzung mit ihrer Lage, ihren persönlichen Wünschen, ihren Absichten und Gefühlen, dem gesellschaftlichen Hintergrund, den Möglichkeiten, die ihnen dieser gibt und den Grenzen ihrer Bemühungen. Das Setting ist mal Cyberpunk, mal ein galaktischer Weltentwurf. Die Figuren sind Chinesen, häufig aber auch Westler. Die geschilderte Welt ist ein Hybrid aus Osten und Westen. So beschreibt Liu, wie Englisch und Mandarin verschmelzen – erst zu einer Lingua Franca, später dann zur Muttersprache der Menschheit. In dieser Zeit wandelt sich die menschliche Gesellschaft mehrfach und wird mal kriegerischer, mal friedlicher. Liu dekliniert hier die Möglichkeiten einer Mischkultur durch, die sich über einen ganzen Planeten erstreckt und von einer unvorstellbaren Gefahr bedroht wird.

Ein einfacher Rückschluss auf das moderne China verbietet sich, doch eines ist klar: Diese chinesischen SF-Autoren schildern Westen und Osten auf Augenhöhe. In ihren Geschichten drückt sich das Selbstbewusstsein der Chinesen aus. Mit Sicherheit verstehen sie sich als Menschen der Zukunft und nicht der Vergangenheit alteuropäischer Prägung. Ein weiteres Beispiel dafür ist ein aufsehenerregendes, maximal CGI-lastiges Scifi-Action-Mashup-Movie, das aber nicht aus Hollywood kommt, sondern aus China: Die wandernde Erde. Basierend auf einer Short-Story von Liu Cixin entwirft das chinesische Produktionsteam ein gigantisches Schlachtengemälde, bei dem gleich die ganze Erde bewegt wird. Und natürlich geben Chinesen die Richtung vor.

Bildquelle: Xiaochen0 / Pixabay