Vor einer Woche habe ich diesen Artikel zum Thema Zeiterfassung auf LinkedIn geteilt und mit Anekdoten gewürzt. Die Überschrift lautet „Die Vertrauensarbeitszeit ist faktisch tot“ und ein Arbeitsrechtler erklärt, dass der EuGH der Täter ist. Die Folge: 48 Kommentare, 53 Reaktionen und fast 13.000 Views. Für mein wenig prominentes Profil ist das eine Menge. Da Vertrauensarbeitszeit und flexible Arbeitszeitregelungen entscheidend für die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands sind, hier ein Artikel mit weiteren Überlegungen:
Timeo danaos et dona ferentes wissen wir durch Asterix-Lektüre. Und die Danaer von heute sind die Richter am Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Denn sie haben den europäischen Arbeitnehmern ein Geschenk gemacht: Mit dem Urteil vom 14. Mai 2019 haben sie alle europäischen Arbeitgeber dazu verpflichtet, die tägliche Arbeitszeit jedes Mitarbeiters genau zu erfassen. Dies erleichtere den Arbeitnehmern den Nachweis der Überschreitung von Arbeitszeiten, der Unterschreitung von Ruhezeiten und biete Behörden und Gerichten ein wirksames Mittel zur Kontrolle. Die Mitgliedsstaaten sind jetzt gefordert und müssen dieses Urteil in Gesetze gießen.
Digitale Zeiterfassung ist besser
Das hört sich im ersten Moment gar nicht mal schlecht an, schließlich will keiner unbezahlte Arbeit leisten. Und es gibt eine ganze Menge Jobs, in denen genaue Zeiterfassung wichtig ist. Aus eigener Erfahrung: Mir war das als Brief- und Paketzusteller wichtig, als Altenpfleger und als Helfer im IT-Support. Diese Jobs sind anstrengend und es ist wichtig, dass die Arbeitszeitgesetze penibel eingehalten werden. Das bedeutet: Acht Stunden Arbeit am Tag, ausnahmsweise zehn Stunden, elf Stunden Mindestruhezeit, Überstunden müssen bezahlt werden. Das EuGH-Urteil verpflichtet Arbeitgeber also dazu, die Einhaltung dieser Regeln auch nachzuweisen.
Mit modernen digitalen Verfahren ist das einfach erledigt. So könnte eine automatische Erfassung beim Betreten und Verlassen des Gebäudes mit einer RFID-Mitarbeiterkarte diesen Zweck erfüllen. Zudem ist es möglich, über das An- und Abmelden an den internen Geschäftsanwendungen eine noch genauere Erfassung der Arbeitszeit zu leisten. Außendienstler bekommen eine App für die Meldung zur Arbeit und im Homeoffice muss ja schließlich auch die Software des Unternehmens genutzt werden.
Das Urteil ist also grundsätzlich umsetzbar, doch in der Praxis wird die Zeiterfassung auf Hürden stoßen. Unsere Arbeitswelt ist flexibler als vor 20 oder 50 Jahren. Vor allem in den Bereichen, die unter dem Oberbegriff Wissensarbeit laufen, geht es in erster Linie um zielorientiertes Arbeiten. Aufträge müssen abgewickelt werden, Projekte beendet und Meilensteine erreicht werden. Viele Mitarbeiter sind nicht regelmäßig an ihrem Schreibtisch, sondern reisen zu Kunden, Lieferanten oder einer Zweigstelle. Hinzu kommen Außendienstler, die lediglich zu Besprechungen in die Zentrale kommen; Leiharbeiter, die gar nicht beim Unternehmen angestellt sind; Homeoffice-Regelungen oder ausgelagerte Arbeitsplätze in einem Coworking-Space und vieles mehr.
Digitale Tools, digitaler Akkord
Das Problem dieses Urteils, das es zum Danaergeschenk macht: Eine generelle Zeiterfassung differenziert nicht zwischen unterschiedlichen Arten der Arbeit. Denn die vom EuGH vefohlene Arbeitszeiterfassung gehört zum Zeitregime des Industriezeitalters, als Arbeitsbeginn, Pausen und Arbeitsende sehr genau festgelegt waren. Zwar gibt es auch heute noch Leute, die auf genau diese Weise arbeiten, doch in vielen Firmen ist das nicht mehr die Mehrheit.
In Zukunft müssen alle ihre Arbeitszeit erfassen, mit Softwarelösungen. Sie könnten aber zu einer totalen Kontrolle führen – eine sicher nicht von den EuGH-Richtern intendierte Nebenfolge. Sogenannte Clickworker kennen das bereits: Ihre Arbeit wird sekundengenau erfasst, etwa die Datenvorbereitung für Machine Learning. So etwas ist eine digitale Form von Akkordarbeit.
Die Clickworker sind gezwungen, eine bestimmte Arbeitsmenge pro Stunde zu schaffen, um angesichts der geringen Stücklöhne überhaupt ein halbwegs brauchbares Einkommen zu erzielen. Dabei werden Zeiten und Mengen aufgezeichnet, sodass eine genaue Abrechnung möglich wird. Diese Form von prekärer Arbeit könnte sich durch Zeiterfassung noch weiter verbreiten. Die Einführung solcher Systeme kostet und es ist naheliegend, den Aufwand durch Effizienzgewinne zu refinanzieren.
Ist Arbeitsleistung immer messbar?
Ein zweites Problem: Viele Aufgaben in der Wissensarbeit sind mit automatischer Zeiterfassung kaum messbar. Ein typisches Beispiel ist das Verfassen dieses Textes: Er ist nicht in einem Stück entstanden, sondern über mehrere Tage hinweg. Ich musste dreimal ansetzen, um meine anfangs noch unsortierten Gedanken zu ordnen. Darüber hinaus habe ich ein Mittelstück einfach gestrichen, da es mir zu abschweifend vorkam. In dieser Zeit habe ich sicher manche Viertelstunde vor dem Computer gesessen und gebrütet — von meinen Playlists beschallt und mit gelegentlicher Hirnentspannung durch Betrachten von YouTube-Videos.
Solche Situationen gibt es in zahlreichen Berufen, die mit Kreativität und Entwicklung zu tun haben, vom Grafiker bis hin zum Backend-Entwickler. Es ist praktisch unmöglich, wie eine Maschine stundenlang zu schreiben oder zu coden. Aus diesem Grunde gehen Wissensarbeiter gelegentlich einen Kaffee trinken, stellen sich zum Durchatmen auf den Balkon oder befreien sich von Denkblockaden durch ein Schwatz mit Kollegen.
Wie soll so etwas gemessen werden? Wird dann den Mitarbeitern wie in Ausbeuterjobs der Toilettenbesuch vom Lohn abgezogen? Das kann das EuGH nicht gemeint haben. Doch diese überspitzten Beispiele zeigen, dass es leider nicht so einfach ist mit der Zeiterfassung. Eine allgemeine Pflicht zur Dokumentation der Arbeitszeit könnte sinnvoll nur durch die Formel „Anwesenheit gleich Arbeitszeit“ erfüllt werden. Doch selbst das führt zu Problemen, bei Mitarbeitern im Außendienst etwa, in Vertrieb und Service.
Das digitale Zeitregime und die große Lüge
Wenn tatsächlich ein Außendienstler seine Arbeitszeit dokumentieren soll, muss auch genau festgelegt werden, was zu dieser Arbeitszeit gehört. Klar, Fahrzeiten gehören dazu. Doch was ist, wenn Kundentermine plus Anfahrt zehn Stunden überschreiten? Und wenn der nächste Termin inklusive Anfahrt so ungünstig liegt, dass keine elf Stunden Ruhezeit möglich sind? Bisher ist es üblich, diese Dinge schlicht zu ignorieren. Offiziell gelten die gesetzlichen Arbeitszeitregeln, inoffiziell wird einfach die anfallende Arbeit erledigt. In schlechten Unternehmen ist es das. In guten Unternehmen schreiben die Mitarbeiter Überstunden auf und feieren sie in Absprache mit Management und Kollegen ab.
In vielen Berufen vom Außendienstler bis zum Zeitungsreporter gab es also bisher eine Zweiteilung. Auf der einen Seite die gesetzlichen Arbeitszeitregeln, die selbstmurmelnd strikt eingehalten wurden. Auf der anderen Seite die notwendige Flexibilität, mit mehr oder weniger großzügigem Überstundenausgleich. Diese Zweiteilung wird es auch in der Welt des EuGH-Urteils geben.
Meine Vermutung: In leicht prüfbaren Arbeitssituationen wird sich das Zeitregime verschlimmern, da digitale Tools den tatsächlichen Arbeitsfortschritt gut erfassen können. In weniger leicht prüfbaren Situationen werden die Unternehmen nicht anders können, als dem Mitarbeiter die Zeiterfassung selbst zu überlassen. Unter anderem deshalb, weil viele technische Spezialisten begehrt sind. Die Unternehmen können nicht ohne sie und müssen ihnen deshalb einigermaßen angenehme Rahmenbedingungen bieten.
Zeiterfassung im 21. Jahrhundert ist also entweder zum Nachteil der Mitarbeiter oder eine große Lüge.
Die Situation der Mitarbeiter wird dadurch eher schlechter, nicht besser. Denn die Zahl der Kontrollfreaks im Management ist immer noch groß und sie werden sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, den Mitarbeitern genau auf die Finger zu schauen.
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